Die Geschichte eines schoenen Mädchens
Hitparade, und jetzt wurde ein Lied gespielt, das ihr besonders gut gefiel: Tie a yellow ribbon round the old oak tree.
Kate redete leise, aber laut genug, dass Lynnie sie trotz der Musik verstand. »Dies ist dein fünfter Lynnie-Tag«, sagte sie strahlend.
Lynnie freute sich, obschon der Schmerz in ihrem Inneren blieb.
»Ich bin wirklich glücklich, den Tag mit dir feiern zu können.«
Lynnie strengte sich an und brachte ein kleines Lächeln zustande.
Kate schaute ihr in die Augen und lächelte zurück. Doch es war kein Spiegel-Lächeln, bei dem sich zwei Menschen über dasselbe freuten. Der Spiegel war zerbrochen, und die beiden Teile passten nicht zusammen. Jeder von ihnen dachte an etwas anderes, also waren sie zusammen und doch getrennt voneinander.
Dann sagte Kate: »Ich kann gleich die Kerzen anzünden, oder wir warten mit dem Kuchen und üben zuerst ein wenig.« Sie griff nach dem Aschenbecher, in dem früher ausgedrückte Zigarettenkippen gelegen hatten, der jetzt jedoch ganz sauber war. Seit Kate Scott kannte, hatte sie jeden Tag weniger geraucht und schließlich ganz damit aufgehört.
Kate nahm die Streichhölzer in die Hand. »Was willst du? Soll ich die Kerzen anzünden? Oder üben wir?«
Lynnie wusste, was Kate sich wünschte. Kate hatte einmal zu ihr gesagt: »Du hast so lange geschwiegen, dass dein Gehirn und dein Mund nicht mehr wissen, wie sie zusammenarbeiten sollen. Aber wenn du übst – nur ein klein wenig jeden Tag –, dann wirst du wieder sprechen können.« Lynnie brachte es nicht über sich, Worte zu formen, wenn andere in ihrer Nähe waren – das Sprechen war schwierig, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Mund gar nicht zu ihr gehören. Manchmal versuchte sie es in der Wäscherei, wenn die Maschinen und Trockner liefen und viel Lärm machten, so dass Cheryl und Lourdes sie nicht hören konnten.
Dennoch war sie noch nicht bereit und deutete deshalb auf die Streichhölzer.
Kate zündete eine Kerze nach der anderen an und zählte laut mit: »Eins, zwei, drei, vier, fünf.« Sie machte eine Pause, dann fügte sie hinzu: »Versuchst du mal ›fünf‹ zu sagen?«
Lynnie wusste, dass sie Kate damit glücklich machen würde. Und, um die Wahrheit zu sagen, musste sie an Buddy und seine Zuckerwürfel denken, wenn sie den köstlich süßen Kuchen aß. Das Üben würde sie von ihrer Trauer ablenken. Sie zuckte mit den Achseln und nahm zu der Routine Zuflucht, die ihr immer half, Mut zu sammeln. Sie senkte den Blick und presste die Fäuste fest zusammen. Dann streckte sie einen Zeigefinger aus undlegte ihn an die Lippen, öffnete den Mund. »Ühhh.« Ihre Stimme fühlte sich schwach an.
Kate bewegte übertrieben die Lippen und sagte: »Fünf.«
»Ühhhn«, machte Lynnie.
»Das war nah dran! Sehr gut.«
»Ühhn«, wiederholte Lynnie ein wenig kräftiger.
»Gut!« Kate drehte das Radio lauter. »Weißt du, was fünf heißt?«
Lynnie hielt ihre Hand hoch und spreizte die Finger.
»Das stimmt, eine Hand hat fünf Finger«, bestätigte Kate.
Lynnie zeigte auf die Topfpflanzen am Fenster.
»Prima«, lobte Kate. »Weißt du, was Scott mir gerade beigebracht hat?« Sie hob die Hand und bedeutete Lynnie, es ihr gleichzutun. »Das machen die Jungs, wenn sie einen Punkt erzielt haben.« Sie beugte sich vor und klatschte ihre Handfläche an Lynnies.
Wie lustig! Lynnie lachte. Dann klatschte sie Kate ab. »Noma«, sagte sie.
»Noch mal?«, fragte Kate nach.
Lynnie nickte. »Noma!«
Kate kam der Bitte nach, und Lynnie fühlte sich großartig, weil sie so etwas wie ein Wort von sich gegeben hatte. Das Üben fiel ihr schwer, aber es machte Spaß, wenn ihr die richtige Person dabei half. Noch immer lachend, ließen sie die Hände sinken.
»Ich weiß«, bekannte Kate, »ich habe dich mit dem Üben überrumpelt. Essen wir den Kuchen.«
Sie drehte das Radio ab, nahm das Geschenk und den Kuchen mit der Vanilleglasur vom Fenstersims und schob beides über den Schreibtisch. Der Kuchen war mit Blumen in den Farben verziert, die Lynnie liebte – Blau und Grün, Rot und Orange. Sie sog den Duft der Glasur, der Wachskerzen und der Schokolade ein.
Kate verkündete: »Heute feiern wir, Lynnie.«
Lynnie blies die Kerzen aus und zählte im Stillen die einzelnen Flämmchen mit.
Dann riss sie das Geschenkpapier auf. Das Buch fiel heraus und landete auf dem Schreibtisch.
Sie setzte sich. Die Zeichnung von einem Haus lächelte ihr von dem Einband entgegen.
»Da steht: Das kleine Haus «, erklärte
Weitere Kostenlose Bücher