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Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Die Geschichte eines schoenen Mädchens

Titel: Die Geschichte eines schoenen Mädchens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Simon
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Malone besorgt beobachtete. Doch dann umfasste Kate das Kreuz an ihrer Kette, und Lynnie wandte sich John-Michael Malone wieder zu.
    Er blieb vor ihr stehen und musterte ihr Gesicht. »Leben Sie hier, in diesem Gebäude?«
    »Cottage«, korrigierte Dr. Everett.
    »Cottage«, wiederholte John-Michael, ohne Lynnie aus den Augen zu lassen.
    Lynnie spürte, wie Kate die Hand in ihre schob.
    Lynnie nickte.
    John-Michael rief: »Randy, kriegst du sie drauf ?«
    Der Dicke hielt die Kamera hinter den Falten seines Mantels verborgen.
    Lynnie hörte das Surren und sah, dass John-Michael etwas in der Hand hielt – ein Mikrofon. »Leben Sie gern hier?«, fragte er.
    Eine lächerliche Frage – alle hassten es, hier zu sein. Außerdem glaubte jeder außer Kate und Doreen, dass Lynnie nicht sprechen konnte. Diese Männer schienen keine Ahnung zu haben, dass sie stumm war, und wenn ihnen schon dieses Wissen fehlte, kannten sie die Antwort wahrscheinlich wirklich nicht. »Leben Sie gern hier?«, wiederholte John-Michael.
    Lynnie musste nicht erst die Fäuste zusammenpressen, um das eine Wort von sich zu geben: »Nein.«
    John-Michaels Blick nahm einen betrübten Ausdruck an. »Wenn Sie jetzt sofort durch das Tor hinausgehen könnten und nie wieder zurück müssten, würden Sie es tun?«
    Lynnie spähte zu Kate, die aufmunternd lächelte.
    Lynnie nickte. John-Michael hatte noch eine Frage. Eine simple Frage, die Kate ihr vor Monaten beizubringen versucht hatte. »Warum?«
    Es gab so vieles, was Lynnie darauf antworten könnte, dass sie, selbst wenn ihre Lippen und die Zunge an Worte gewöhnt wären, Schwierigkeiten gehabt hätte, alles aufzuzählen. Doch ihr blieb nur dieser eine Moment, undwährend sie kämpfte, die einzelnen Punkte auf vier oder fünf einzuschränken, fielen ihr die Hunde ein. Die ständigen Begleiter von Clarence und Smokes erinnerten sie immer an jene Nacht, an das berstende Glas, das Klappern des Eimers, den Teppich … an die Nacht, in der es geschah, daran, dass Smokes die Tür aufmachte und drohte: Wenn du jemandem erzählst, was sich hier abgespielt hat … Er warf den Hunden etwas Pelziges zu, und sie zerfetzten es innerhalb von Sekunden in der Luft.
    Genau das würde mit ihrem Baby passieren, davon war Lynnie überzeugt. Deshalb hatte sie Buddy, Doreen und Kate die Wahrheit verschwiegen.
    Egal, wie viele Antworten sie auf diese eine Frage parat hatte, sie würde keine einzige davon preisgeben.
    Sie senkte den Blick.
    »Sie redet nicht viel«, erklärte Kate.
    »Wer ist sie?«, wollte John-Michael wissen.
    »Sie dürfen Ihren Namen nicht nennen, wenn Sie auf Sendung sind.«
    »Das machen wir nicht. Aber mein Produzent wird ihn wissen wollen.«
    »Lynnie«, sagte Kate. »Evelyn Goldberg.«
    Lynnie hörte die Kamera nicht mehr surren. Als sie aufschaute, verschwanden die Männer eilig durch die Haustür.
    Kate sah Lynnie mit ihrem sanftesten Lächeln an: »Das hast du gut gemacht, Süße.«
    Es war schwierig, in die Wäscherei zu gehen und so zu tun, als wäre alles ganz normal. Immerhin war heute Lynnie-Tag. Sie hatte versucht, das Wort »fünf« auszusprechen, die Kerzen ausgeblasen und ein neues Buch bekommen. Sie hatte sogar eine echte Kamera gesehen, nicht eine Polaroid wie die von Daddy. Mit dieser Kamera konnteman, wie Kate erklärt hatte, Filme aufnehmen, wie sie jede Woche vorgeführt wurden.
    Als Lynnie die letzte Ladung Wäsche aus dem Trockner nahm und zu den Stahltischen rollte, wo sie die einzelnen Stücke zusammenfaltete, dachte sie über das nach, was Kate auf dem Weg zur Wäscherei zu ihr gesagt hatte. »Heute Abend bleibe ich länger. Ich möchte hier sein, für den Fall, dass die Sache über den Sender geht.« Sie erläuterte, was sie damit meinte, und Lynnie verstand: Es war, wie wenn man nach der Ernte in ein Maisfeld geht. Jeder konnte einen sehen, auch wenn man sich in Erinnerungen versteckte, auf die beiden Menschen wartete, die nie zurückkommen würden, auf die Knie fiel und die Hände auf den Boden legte, als könnte man die geliebten Menschen aus der Erde ziehen.
    Lynnie wusste nicht, ob sie über den Sender gehen wollte.
    Aber Kate hatte noch etwas gesagt: »Weißt du – Leute, die weit weg sind, sehen das vielleicht, und dann könnte etwas Großes geschehen.«
    Lynnie faltete die Hemden und Unterhosen und legte die passenden Socken zusammen, währenddessen versuchte sie sich vorzustellen, wie Menschen, die weit weg waren, sie beobachteten. Wäre die alte Lady eine von ihnen?

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