Die Geschichte eines Sommers
rasch jemand ein Tischgebet sprechen. Nicey, die Frau von Willadees ältestem Bruder Sid, wurde dafür ausersehen, da sie andernfalls gekränkt gewesen wäre. Sie war eine eifrige Kirchgängerin und hatte praktisch von dem Moment an, als sie selbst zu alt für die Sonntagsschule wurde, die Kinder dort unterrichtet. Sie sprach ein ungewöhnliches Gebet voller altertümlicher Worte, das mit »Ah-men« endete. Sid und Alvis fügten dem ein »Haut rein!« hinzu, worauf Nicey fast hysterisch wurde, weil es so pietätlos war.
»Du hast in eine pietätlose Familie eingeheiratet«, erklärte ihr Alvis’ Frau Eudora. »Also musst du dich wohl oder übel damit abfinden.«
John hatte die Bar am Morgen kurz vor Sonnenaufgang geschlossen und war sofort ins Bett gegangen in der Hoffnung, fünf bis sechs Stunden Schlaf zu kriegen, was für einen gesunden Mann ausreichend war, und er fühlte sich kerngesund. Wie immer am Tag des Familienfests war Callas Laden auf Vertrauensbasis geöffnet. Leute, die etwas brauchten, gingen hinein, nahmen sich, was sie wollten, und hinterließen das Geld oder einen Zettel mit den Waren in dem Glas auf der Theke. Bis die Kirche zu Ende war, war nicht viel los, aber dann tauchten etliche Leute auf, denen in letzter Minute eingefallen war, dass sie keine Brötchen oder keine Schlagsahne für den Nachtisch ihres Sonntagsessens hatten. Es war ganz normal, dass nicht wenige der Kunden vom Laden auf den Hof herüberkamen und dort eine Weile blieben, obwohl sie immer wieder betonten, eigentlich nach Hause zu müssen, bis ihnen jemand einen Teller in die Hand drückte und sie damit gezwungen waren, zu bleiben und mitzuessen.
Swan, Noble und Bienville wussten nie genau, wer zur Verwandtschaft gehörte und wer nicht. An die engsten Verwandten konnten sie sich noch vom letzten Jahr her erinnern, doch dann gab es all die Leute, mit denen sie gar nicht verwandt waren, ganz zu schweigen von Cousins und Cousinen zweiten und dritten Grades sowie Großtanten, mit denen sie um zwei Ecken verwandt waren. Darüber konnten sich die Kinder halb totlachen. »Wenn diese alte Schnepfe doch schon zwei Mal um die Ecke gebracht wurde, wieso ist sie dann noch hier?«, tuschelten sie untereinander und kicherten dann so lange, bis sie entweder Schluckauf bekamen oder einen Klaps auf den Po von ihrer Großmutter – was auch immer als Erstes passierte.
John Moses hatte seine sechs Stunden Schlaf gekriegt und spazierte die Treppe hinunter, um mitzufeiern. Seine Söhne und Willadee kamen vom Hof auf die seitliche Veranda, um ihn zu begrüßen. Die seitliche Veranda war an das Haus angebaut worden, kurz nachdem John die hintere Veranda zugemauert hatte. Er war der Meinung, ein Haus ohne Veranda sei kein Haus. Ein Mann brauche schließlich etwas, von wo aus er runterpinkeln könne. Eine Innentoilette sei ja gut und schön, aber sie würde einem Mann niemals so ein Gefühl von Freiheit vermitteln wie eine Veranda. Willadee fiel John um den Hals und strich ihm liebevoll über sein stoppliges Kinn, die Söhne schüttelten ihm die Hand. John lachte von einem Ohr zum anderen.
»Irgendwer hat mir erzählt, hier gäb’s ’ne Party«, sagte er mit dröhnender Stimme.
»Da hat derjenige verdammt recht mit gehabt«, sagte Toy Moses.
Toy sah nicht im Geringsten so aus, wie sein Name vermuten ließ. Er war einen Meter fünfundneunzig groß und hatte kräftige Muskeln, die sich unter seinem Baumwollhemd abzeichneten. Beim Gehen hielt er sich ungewöhnlich gerade. Gerader, als Swan und ihre Brüder es je bei einem anderen Menschen gesehen hatten. Er hatte eine Narbe auf der Stirn und eine tätowierte Bauchtänzerin auf dem Arm und machte insgesamt den Eindruck eines Mannes, mit dem man sich nicht anlegen sollte. Allerdings hatte er eine sanfte Stimme, besonders wenn er mit seinem Vater sprach. »Komm mal lieber mit rüber, und hol dir was zu essen, bevor alles weg ist«, sagte er.
»Na, bevor ich mich schlagen lasse«, sagte John prächtig gelaunt und führte seine Brut die Treppe hinunter.
Als alle gegessen hatten, bis sie pappsatt waren, ließen sich die Erwachsenen auf die Gartenstühle oder die Wiese nieder und redeten über die gute alte Zeit. Die Kleinkinder wurden schlafen gelegt, und die Teenager schlenderten zu den Autos, um Radio zu hören und über Dinge zu reden, über die sie eigentlich noch gar nichts wissen sollten. Noble wollte sich dieser weltgewandten Gruppe anschließen, wurde aber eiskalt abgewiesen. Also schlich er
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