Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschichte eines Sommers

Die Geschichte eines Sommers

Titel: Die Geschichte eines Sommers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wingfield Jenny
Vom Netzwerk:
ihre Kinder zu sich rufen sollte, um sie zu trösten, doch sie waren nirgendwo zu sehen. Überhaupt keine Kinder. Irgendjemand hatte sie vermutlich mit zu sich nach Hause genommen und würde sie spätestens morgen früh zurückbringen.
    Alvis kam zu ihr und legte seine Arme um sie. »Dieser alte Kerl«, sagte er mit verbitterter Stimme.
    Willadee rieb ihre Stirn an seiner Schulter, dann wandte sie sich ab. Es störte sie, dass sich alle so sehr über die Tat ihres Vaters aufregten. Dabei hatte er sich doch einfach nur aus dem Staub gemacht, mehr nicht. Sie drängte sich durch die Leute hindurch, doch wohin sie auch blickte, stets sah sie in ein mitfühlendes Gesicht. Jemand sagte ihr, sie solle sich am besten mal richtig ausheulen, aber innerlich fühlte sie sich völlig ausgetrocknet. Jemand anderes fragte nach den Arrangements. Was für ein Wort. Arrangements. Was gab es an John Moses noch zu arrangieren? Er war tot. Er würde verrotten. Früher einmal war er attraktiv gewesen, und jetzt würde er verrotten, aber nicht bevor Arrangements getroffen und ein Profit eingestrichen worden war. Arrangements waren teuer, auch schon 1956.
    Schließlich ging Willadee in die Bar und schloss die Tür hinter sich ab. Drinnen war es düster und drückend heiß. Doch sie wollte kein Licht. Sie wollte weder Tür noch Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen, denn dann würden auch die Menschen von draußen hereinströmen und sie erdrücken. Während sie sich an der Theke entlangtastete, dachte sie an ihren Vater und an das Gespräch, das sie letzte Nacht hier geführt hatten. Daran, wie sie ins Bett gegangen war und geglaubt hatte, alles wäre in Ordnung und alles würde wieder gut werden. Sie stand da, hielt sich mit beiden Händen an der Theke fest und merkte nicht einmal, dass sie zu weinen angefangen hatte. Lautes, heftiges Schluchzen. Nach einer Weile verebbten die Tränen, und sie legte ihren Kopf auf das verschrammte Holz. Da erst realisierte sie, dass sie nicht allein war.
    »Bis heute hab ich noch nie auch nur einen Fuß hier reingesetzt.« Es war Calla. Sie saß an einem Tisch in der hinteren Ecke, ganz für sich allein. »All die Jahre bin ich so wütend auf ihn gewesen. Und nun versuche ich mich zu erinnern, warum ich eigentlich so wütend war.«
    Calla Moses verbrachte die Nacht im Begräbnisinstitut. Ernest Simmons, der Bestatter, sagte ihr, dass der Leichnam erst am nächsten Tag aufgebahrt werden könne und sie nach Hause gehen und sich ein bisschen ausruhen solle. Doch sie erklärte ihm, dass sie nicht gekommen sei, um den Toten zu sehen, sondern um in seiner Nähe zu sein, und dass sie sich nicht von der Stelle rühren würde.
    Willadee und ihre Brüder boten allesamt an, Calla Gesellschaft zu leisten, aber sie entgegnete, keine Gesellschaft zu wollen.
    »Du brauchst doch nicht gerade jetzt allein zu sein«, beharrte Willadee.
    »Zu Hause würde ich mich noch einsamer fühlen«, erwiderte Calla entschieden. »Und dass nur ja keiner von euch auf die Idee kommt, ihr könntet mir nun, wo euer Daddy nicht mehr ist, sagen, was ich zu tun hab. Das habt ihr nie gewagt, und damit solltet ihr jetzt auch nicht anfangen.«
    Alle gaben nach, nur Toy weigerte sich zu gehen. Er war genauso stur wie seine Mutter.
    »Bernice kann bei Willadee und den Kindern schlafen, dann ist sie nicht allein«, erklärte er ihr. »Du wirst kaum merken, dass ich hier bin.«
    Und das tat sie auch nicht. Toy schickte alle anderen weg und verbrachte den größten Teil der Nacht im Freien, wo er eine Zigarette nach der anderen rauchte und in den Himmel starrte. Calla setzte sich hingegen in einen leeren Aufbahrungsraum, schloss die Tür und dachte über das Leben nach, das sie mit John Moses geführt hatte.
    »Es war ein gutes Leben, John«, flüsterte sie in die Stille hinein. »Wir hatten zwar unsere Reibereien, aber insgesamt war es ein gutes Leben.« Und dann rief sie mit erbitterter Stimme: »Warum hast du es weggeworfen, verdammt noch mal?«
    Auch am Tag des Begräbnisses wurde der Laden nicht geschlossen. Calla meinte, Moses’ »Never Closes« habe schon eine so lange Tradition und man wisse doch, wie sehr Papa John auf Traditionen bestanden habe. Swan konnte sich zwar den Gedanken nicht verkneifen, dass Papa John so ziemlich alle Traditionen über den Haufen geworfen hatte, indem er sich erschoss, und das auch noch mitten auf einem Familientreffen, doch so etwas sagte man nicht laut. Im Übrigen nahmen sie an diesem Tag nichts ein,

Weitere Kostenlose Bücher