Die Geschichte eines Sommers
hätte er sich an diesem Abend zwar noch ein letztes Mal in dieser Welt schlafen gelegt, wäre am nächsten Morgen aber in einer anderen aufgewacht.
Nachdem Ras gegangen war, dachte Calla über sein Verhalten nach. Vielleicht versuchte er ja sein Ansehen in der Gemeinde zu verbessern. Vermutlich hatte er das auch an jenem Tag beabsichtigt, als er Millard und Scotty geholfen hatte, Toy zur Notaufnahme in die Stadt zu bringen. Seitdem war Calla immer freundlich zu ihm gewesen – so wie alle anderen auch. Sie waren so dankbar, dass Toy am Leben geblieben war, dass sie die Motive von Ras Ballenger nicht hinterfragt hatten.
Aber nun kamen Calla Zweifel.
»Ich kann mir keinen Reim drauf machen«, sagte Willadee an jenem Abend, nachdem Calla ihr von dem Besuch erzählt hatte. »Aber ich traue ihm einfach nicht. Jedes Mal wenn wir ihn allmählich vergessen, taucht er wieder auf, wie um uns daran zu erinnern, dass er noch da ist.«
Sie hatten gerade die Kinder ins Bett gebracht und saßen gemeinsam im Wohnzimmer. Willadee war dabei, den Kragen an einem von Samuels Hemden zu wenden, damit man die verschlissenen Stellen nicht sah. Sie hatte bereits die Nähte aufgetrennt und zog die losen Fäden heraus.
»Wir sollten wieder besser auf Blade aufpassen«, sagte Calla. »Wir sind nachlässig geworden.«
In letzter Zeit hatten die Kinder wieder überall spielen dürfen. Sie wagten sich zwar nicht bis zum Bach, waren aber häufig nicht mehr in Sichtweite, besonders wenn sie auf Lady ritten. Und das taten sie normalerweise von dem Augenblick an, wenn sie aus dem Schulbus stiegen, bis es zu dunkel wurde.
Behutsam setzte Willadee den Kragen mit der guten Seite nach oben wieder ein und begann ihn anzunähen.
»Ich wünsche ja nur ungern jemandem etwas Schlechtes, Mama, aber ich weiß wirklich nicht, wieso jemand wie dieser Mann auf dieser Erde lebt.«
»Wenn er dem Jungen noch mal etwas tut, wird er bald nicht mehr unter den Lebenden weilen.«
Willadee sah sie verblüfft an. Für Calla Moses waren das überraschend harte Worte.
»Und glaub bloß nicht, dass ich das nicht ernst meine«, sagte Calla.
An diesem Abend saß Ras Ballenger mit einem frischen Stück Bull-Durham-Kautabak in der Backe auf der Treppe vor seinem Haus und lächelte selbstzufrieden.
Er hatte Calla Moses die Fragen nicht gestellt, um Antworten zu bekommen. Ganz bestimmt nicht! Sein mehrmaliges Auftauchen beim Revival, die kleine Farce mit den Weihnachtsgeschenken für Blade und sein heutiger Besuch im Laden, alles war aus dem gleichen Grund geschehen, aus dem er auch so manche Dinge mit Geraldine veranstaltete. Es machte Leute nervös.
Sämtliche Antworten auf die Fragen, die er hatte, hatte er bereits durch seine Beobachtungen erhalten – die dann stattfanden, wenn niemand ihn beobachtete.
Plötzlich quietschte hinter ihm die Tür. Geraldine trat aus dem Haus und setzte sich neben ihn, allerdings nicht so nah, dass sie ihn berührte. Er wusste, dass sie das nur deshalb tat, weil sie sonst niemanden zum Reden hatte, der älter als fünf Jahre war. Um sie zu ärgern, begann er die kleinen Fettrollen an ihrer Taille zu befühlen. Sofort wurde sie steif wie ein Brett.
»Was ist los? Magst du nicht, wenn ich dein Fett anfasse?«
Sie rückte von ihm ab.
»Lass das.«
»Na schön, wenn du meine Zärtlichkeiten nicht willst. Andererseits sollte so ein Fettkloß wie du nehmen, was er kriegen kann.« Wieder kniff er ihr ins Fleisch. »Als ich dich geheiratet hab, warst du längst nicht so dick.«
Sie presste die Lippen aufeinander und seufzte resigniert. Ras tätschelte ihr den Rücken, als wäre sie ein braver alter Hund, und lächelte fröhlich.
»Ich war heute drüben und hab nach deinem Jungen gefragt.« So nannte er Blade inzwischen immer, wenn er mit ihr über ihn sprach. »Dein Junge.« Der kleine einäugige Idiot.
Geraldine wandte den Blick ab, wie immer wenn er von Blade redete. Ras war sich nicht sicher, ob sie den Jungen vermisste oder einfach nur froh war, dass er jetzt bei den Moses lebte anstatt hier, aber nicht wollte, dass er ihr die Erleichterung an den Augen ablas. Vielleicht glaubte sie auch, das Kind sei bei den Moses sicherer aufgehoben. Bei dem Gedanken hätte er beinah laut aufgelacht. Sie hatte ja keine Ahnung, wie weit sein Einfluss reichte. Oder wie schnell er zuschlagen konnte.
Er packte eine Strähne von ihrem schlaff herabhängenden Haar, zog aber nicht daran, wie er es manchmal tat, sondern hielt die Strähne einfach nur
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