Die Geschichte eines Sommers
Huhn gewesen.
»Ich versteh gar nicht, wie die ausbüxen konnten«, sagte Calla.
»Hast du Swan gesehen?«, fragte Willadee.
38
Swan befand sich an einem dunklen Ort. An einem unglaublich dunklen Ort, dessen Boden aus nackter Erde bestand. Allerdings konnte sie sich nicht absolut sicher sein, ob es tatsächlich dunkel war, denn sie hatte noch immer den Jutesack über dem Kopf. Um Hilfe schreien konnte sie auch nicht, weil der Sack mit den Stoffstreifen noch über ihrem Mund festgezurrt war. Ihre Kleider waren zerrissen und schmutzig, aber sie trug sie immerhin noch am Leib. Ein Mann braucht ein kleines Mädchen nicht nackt auszuziehen, um das mit ihr anzustellen, was er getan hatte.
Und sie wusste, wer er war. Sie wusste es einfach. In ihren Gedanken nannte sie ihn immer nur »der Mann«, weil das irgendwie weniger entsetzlich war, als sich eingestehen zu müssen, wer er in Wirklichkeit war.
Neben ihr lag etwas. Etwas, das sie hinten bei den Trauerweiden gefunden hatte, während das Entsetzliche mit ihr passiert war. Sie hatte es mit einer Hand gefunden. Mit einer der beiden Hände, mit denen sie um sich geschlagen und gleichzeitig versucht hatte, sich an Erde und Blättern festzukrallen. Zuerst hatte sie nicht gewusst, wo sie sich befand, doch nachdem sie ihren Fund gemacht hatte, wusste sie es.
Eigentlich bestand der Fund aus zwei Dingen, eins steckte im anderen. Eine Kuhglocke, deren Klöppel mit Lumpen umwickelt war, zwischen denen sich eine Entenlockpfeife verbarg.
Nachdem sie die Kuhglocke gefunden hatte, hielt Swan sie ganz fest. Der Mann hatte offenbar nichts davon bemerkt, dazu war er zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Brutalen Dingen, die wehtaten. Dass sie die Kuhglocke gefunden hatte, hatte sie ein wenig von dem abgelenkt, was geschah. Es gab ihr etwas, worauf sie sich konzentrieren konnte, abgesehen von dem harten Boden, dem ganzen Gezerre und der Art, wie der Mann ständig »meine kleine Schöne« zu ihr sagte, während er die hässlichen Sachen mit ihr tat. Wagemutig überlegte Swan, ihn mit der Kuhglocke zu schlagen, aber das konnte sie nicht. Sie konnte gar nichts. Sie konnte sich nicht unter ihm hervorwinden, nicht ertragen, was passierte, konnte nicht aufhören, immer wieder zu schreien zu versuchen, konnte ihre Arme nicht heben, um nach ihm zu schlagen.
Doch selbst in dieser Situation wusste ein Teil von ihr, dass es das Falscheste wäre, was sie tun könnte, ihm mit der Kuhglocke eins überzubraten. Was wäre, wenn sie danebenzielte? Was, wenn sie damit nur erreichte, dass er so wütend wurde, dass er sofort das tat, was er vermutlich ohnehin tun würde und vor dem sie entsetzliche Angst hatte? Wenn er sie umbrächte?
Nachdem er aufgehört hatte, endlich aufgehört hatte, blieb er keuchend und zuckend auf ihr liegen. Sie zog ihren Arm langsam an sich. Die Hand, die die Kuhglocke hielt. Die lautlose Kuhglocke.
Noch erkannte sie nicht die volle Bedeutung dessen, was sie gefunden hatte, selbst dann nicht, als der Mann sich von ihr erhob und sie hörte, wie er den Reißverschluss hochzog und seine Gürtelschnalle schloss, ihr den Fund aber immer noch nicht wegnahm. Er konnte die Glocke also nicht gesehen haben.
Erst als sie wieder auf den Beinen war, als er sie an einer Hand zog – nicht an der Hand, die die Kuhglocke festhielt – und zur Eile drängte und sie unsicher und erschöpft versuchte, nicht über Wurzeln zu stolpern oder in Löcher zu treten, und sich tatsächlich auf den Beinen hielt – als das und sonst nichts passierte, was ihr die Kuhglocke entrissen hätte – erst da verstand sie, dass das, was sie in der Hand hielt, ein Wunder war.
Als sie den Ort erreichten, an dem sie einsperrt wurde, wusste sie, dass er die Kuhglocke nicht sehen konnte. Dass Gott auf keinen Fall zulassen würde, dass er sie sah. Gott hatte ihn für die Glocke blind gemacht. Das war die einzige Erklärung für dieses Wunder.
Als der Mann sie in den Raum stieß, hatte sie sich hinfallen lassen. Mit Absicht. Irgendetwas in ihrem Inneren hatte ihr gesagt, dass er sie fesseln würde, und griffe er nach ihren Händen, während sie die Glocke noch hielt, dann wäre das Wunder für immer zerstört. Also hatte Swan sich auf die Glocke fallen lassen, und als der Mann sie an Händen und Füßen zu fesseln begann, hatte er die Glocke nicht gefunden. Er war in dem Raum – was auch immer das für ein Raum war – hin und her und kreuz und quer gegangen und hatte sie ringsum festgebunden, sodass sie sich
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