Die Geschichte eines Sommers
Willadee sich dazu durchrang, die Wahrheit zu sagen, aber wenn man sie festnagelte, log sie niemals. Sie war durch und durch eine Moses.
»Und was hat er dafür benutzt?«
»Seine Hände!«
Seine Hände. Onkel Toy hatte mit bloßen Händen einen Mann umgebracht. Eine Weile lang saß Swan nachdenklich da. In ihrer Vorstellung wurde Onkel Toy von Sekunde zu Sekunde größer und stärker. Er hatte etwas Faszinierendes an sich, etwas, dem man sich nicht entziehen konnte. Man konnte geradezu von ihm besessen sein. Merkwürdigerweise jedoch schien Tante Bernice ganz und gar nicht von ihm besessen zu sein. Natürlich waren verheiratete Paare in der Regel nicht mehr voneinander besessen, das wusste selbst Swan. Ihre Eltern mochten zwar immer noch bis über beide Ohren verliebt sein, aber die Ehe schien die meisten Leute zur Ruhe kommen zu lassen. Trotzdem, Tante Bernice und Onkel Toy waren einfach so perfekt . Er so stark und selbstsicher, und sie mit diesem herzzerreißend schönen Körper und einer Haut wie Seide. Wenn Tante Bernice wenigstens ein bisschen verrückt nach Onkel Toy gewesen wäre, hätte es eine unglaubliche Liebesgeschichte sein können. Eine von der Art, die selbst dann noch weiterlebt, wenn die Betroffenen längst schon tot sind. Doch Tante Bernice verhielt sich so, als wäre ihr Mann Luft, auch wenn sie direkt neben ihm saß. Und dabei betete er sie doch an! Die Frau sollte sich wirklich mal auf ihren Geisteszustand untersuchen lassen.
Swan stand auf. Überall in der Wanne schimmerten Schaumblasen. Sie beugte sich hinab, häufte zwei Hände voll Schaum und klatschte sich eine Ladung davon auf jede Brust. Aus dem Schaum formte sie spitze Brüste, so wie die von Tante Bernice. Als Willadee auf der Suche nach einem Kamm zurück ins Badezimmer kam, erwischte sie ihre Tochter dabei.
»Willst du wohl sofort damit aufhören?«
Es war keine Frage. Swan ließ sich zurück ins Wasser gleiten, und ihre fantastischen Schaumbrüste fielen in sich zusammen.
»Hat er ihn totgeschlagen oder erwürgt?«
Willadee hatte ihren Kamm gefunden und wollte gerade wieder hinausgehen.
»Er hat ihm das Genick gebrochen.«
6
Seit dem Begräbnis hatte Onkel Toy kein einziges Mal mehr mit Swan gesprochen, obwohl er sehr oft bei ihnen war. Da seine Brüder wieder arbeiten mussten, war es von jetzt an seine Aufgabe, sich um »Never Closes« zu kümmern. Seine eigenen Kunden mussten ihren Schnaps dann eben in aller Öffentlichkeit kaufen oder vorläufig ohne auskommen.
Jeden Nachmittag, etwa eine Stunde bevor Oma Calla ihren Laden schloss, fuhr Toy entweder in seinem blauen Oldsmobile, das schneller als jedes Polizeiauto war, oder in seinem schwarzen Ford-Pick-up, den er für die Jagd benutzte, auf den Hof. Bernice kam immer mit und erklärte jedes Mal, sie habe Angst, allein zu Hause zu bleiben. Während Willadee das Abendessen vorbereitete, machte Toy sich nützlich und erledigte Dinge, für die eine Männerhand erforderlich war: eine Tür, die schief hing und gerichtet werden musste – alle Türen hingen schief –, ein Loch im Zaun vom Hühnerhof, das geflickt werden musste, ein abgestorbener Baum, der gefällt werden musste, bevor er beim nächsten Sturm aufs Haus fiel.
Am ersten Tag war Swan noch ständig hinter Toy hergelaufen in der Hoffnung, er würde sie bemerken und ihr verzeihen, sodass sie doch noch so gute Freunde werden könnten, wie sie zunächst gehofft hatte. Doch Toy blickte nie in ihre Richtung. Er arbeitete bis zum Abendessen, aß wie ein Scheunendrescher und verschwand dann in der Bar. Am ersten Abend setzte sich Swan, nachdem er gegangen war, an den Küchentisch und hörte zu, wie ihre Mutter und Tante Bernice sich unterhielten, während sie die Küche sauber machten.
»Ich wage mir immer noch kaum vorzustellen, was euer Vater getan hat«, sagte Bernice. Dabei schauderte sie, was zeigte, dass sie es sich sehr wohl vorstellte. Und zwar in Farbe. Sie war die Einzige in der Familie, die das Thema immer wieder anschnitt, alle anderen schwiegen sich mehr oder weniger darüber aus – obwohl es natürlich trotzdem ständig im Raum stand.
»Lass Daddy doch in Frieden ruhen«, sagte Willadee.
Bernice sah sie an, als wäre sie gekränkt darüber, dass Willadee nicht auf ihr Gesprächsthema angesprungen war.
»Ich versteh gar nicht, wie ihr alle so gut damit fertigwerdet. An eurer Stelle würde ich es wahrscheinlich nicht mal schaffen, morgens aufzustehen.«
»Wenn du Kinder hättest, würdest du
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