Die Geschichte eines Sommers
das.«
Kinder waren ein Thema, über das Bernice nicht gern redete, deshalb wurde es eine Zeit lang still in der Küche. Nur noch das Klappern des Geschirrs war zu hören. Dann fragte sie ganz beiläufig, als wäre es ihr gerade in den Sinn gekommen: »Wann kommt eigentlich Sam zurück?«
»Am Freitagabend«, antwortete Willadee. »Wie immer.«
»Bin ja mal gespannt, wo ihr nächstes Jahr sein werdet.«
»Das weiß der liebe Himmel.«
»Vielleicht müsst ihr ja gar nicht umziehen.«
»Es ist gar nicht schlecht, ab und zu umzuziehen.«
»Ich glaube, ich käme damit nicht klar.«
»Dann ist es ja gut, dass nicht du Sam geheiratet hast.«
Ende des Gesprächs. Eigentlich hätte Bernice jetzt etwas erwidern müssen, doch sie tat es nicht. Es entstand ein längeres Schweigen, bis Willadee anfing, die Titelmelodie von dem Fernsehfilm In der Abenddämmerung vor sich hin zu summen. Da ließ Bernice alles stehen und liegen und verließ den Raum. Einfach so, ohne jede Erklärung. Willadee wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und blickte ihr hinterher. Da erst bemerkte sie Swan, die mit weit aufgerissenen Augen und Ohren am Tisch saß.
»Swan Lake, was machst du hier?«
»Nichts.«
»Dann tu das woanders.«
»Ja, Ma’am.«
Natürlich rührte sich Swan nicht von der Stelle. Wenn man Willadee nicht offen widersprach, konnte man sich häufig erlauben, ihr nicht zu gehorchen – zumindest für eine Weile.
»Was hat Tante Bernice denn für ein Problem?«, fragte Swan, als ihre Mutter wieder angefangen hatte zu spülen.
» Woanders , habe ich gesagt, Swan.«
Das war am Mittwochabend gewesen, nun war Freitag, und ihre Zeit hier ging dem Ende zu. Heute Abend würde Swans Vater kommen und ihnen sagen, wo sie das kommende Jahr verbringen würden, und bevor alle anderen am nächsten Morgen aufgestanden waren, hätte Willadee bereits sämtliche Sachen gepackt. Gleich nach dem Frühstück würden sie zurück nach Louisiana fahren. Entweder würden sie dann in ihren gewohnten Trott nach Eros, in den kleinen Ort, in dem sie nun seit einem Jahr wohnten, zurückkehren, oder sie würden sich mal wieder auf einen Umzug vorbereiten.
Swan hoffte, dass sie umziehen würden. Sie und ihre Brüder wurden von vielen Leuten bedauert, weil sie so häufig umziehen mussten, aber sie fand das immer wieder aufregend. Wenn man an einen neuen Ort zog, wurde man von allen willkommen geheißen, die Gemeindemitglieder luden einen zum Essen ein, machten viel Wirbel um einen, und alles war wunderbar. Jedenfalls erst einmal.
Wenn man nicht mehr neu und interessant war, wurde es aus Swans Sicht Zeit weiterzuziehen. Denn dann wurde das Leben zu einem Eiertanz, bei dem man niemandem auf die Zehen treten durfte, doch genau das tat ihr Vater ständig. Es war sozusagen seine Spezialität. Er konnte einfach nicht widerstehen, Sündern zu erzählen, Gott liebe sie, genauso wie er, und zu fragen, warum sie sich denn am nächsten Sonntag nicht mal im Hause des Herrn blicken ließen. Und die, denen er das erzählte, das waren richtig schlimme Sünder: Männer, die zu faul waren, um zu arbeiten, und Paare, die in Sünde zusammenlebten. Sogar eine schlampige alte Frau, die früher mal Stripteasetänzerin auf der Bourbon Street gewesen war, bis ihr Aussehen nicht mehr mitmachte, hatte ihr Vater schon einmal eingeladen. Samuel war es nicht genug, ganz gewöhnliche Sünder zu retten. Er wollte alle Menschen auf Gottes grüner Erde retten und tat so, als wäre das allein seine Aufgabe. Als ob der Herr keine anderen Helfer hätte.
Manchmal wünschte sich Swan, ihr Vater wäre irgendetwas anderes als ausgerechnet Prediger. Wäre er beispielsweise der Leiter des Postamts, besäße er eine Eisenwarenhandlung oder würde sonst was tun und würde nicht jeder im Ort sie ständig in der Hoffnung beobachten, dass sie was ausfraß, damit man darüber tratschen konnte, dann könnte sie vielleicht ein ganz normales Kind sein. Es musste wunderbar sein, zu sein wie alle anderen.
Doch im Augenblick gab es wichtigere Dinge, über die sie nachdenken musste. Sie hatte nicht mal mehr einen Tag Zeit, um sich mit Onkel Toy anzufreunden. Fuhr sie morgen früh mit ihrer Familie fort, würde sie ihn wieder ein ganzes Jahr lang nicht sehen, und bis dahin könnte die Welt längst untergegangen sein.
Gleich nach dem Aufstehen begann Swan nach Onkel Toy Ausschau zu halten. Noble und Bienville waren nirgendwo zu sehen, dem Himmel sei Dank. Die beiden waren in den letzten Tagen
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