Die Geschichte eines Sommers
anzieht«, erklärte er großmütig. »Wozu braucht man denn mehr Sachen, als man auf einmal tragen kann, wenn man nicht bereit ist, sie mit jemandem zu teilen?«
Am Ende des Tischs hielt Tante Bernice mit Onkel Toy Händchen, ganz die gute Ehefrau, die zu sein sie nun allen vorgaukelte, obwohl sie an so viel Freundlichkeit und Nächstenliebe zu ersticken drohte.
»Tja«, bemerkte sie in ihrem seidenweichsten Ton, »dann müssen wir herausfinden, wer seine Eltern sind, und ihn schnellstmöglich nach Hause bringen. Die sind bestimmt ganz außer sich vor Sorge.«
»Aber vielleicht sind seine Eltern keine guten Menschen«, sagte Swan. »Vielleicht ist sein Vater der fiese und gemeine Sohn einer …«
Samuel sah Swan tadelnd an, und ihr wurde gerade noch rechtzeitig bewusst, was sie beinah gesagt hätte, um es noch korrigieren zu können.
»… Hundezüchterin , und der Junge hat Angst, nach Hause zu gehen.«
Willadee machte sich im Geiste eine weitere Notiz.
Toy Moses schob seinen Teller zurück und zündete sich eine Zigarette an.
Nach dem Frühstück versammelte sich die gesamte Familie am Fenster und beobachtete, ob sich bei der Scheune irgendetwas tat.
»Ich wette, der ist schon fort.« Noble war enttäuscht. Er hatte sich so darauf gefreut, einen Jungen kennenzulernen, der in anderer Leute Scheunen schlief und ihnen spät in der Nacht Essen aus der Küche stahl. Dieser Junge musste einfach cool sein.
»Wenn er aber hier isst und hier schläft, wo sollte er dann hin?«, fragte Willadee.
»Ich komme mir vor, als warte ich darauf, dass eine Kuh kalbt«, fügte Calla zur Erklärung der Situation noch hinzu.
Als Blade Ballenger Bienvilles Sachen anprobiert hatte, musste er feststellen, dass ihm das Hemd bis zu den Knien reichte, was gut so war, denn die Hose war ihm ebenfalls viel zu groß, sodass sie ständig runterrutschte.
Es widerstrebte ihm, so schöne saubere Sachen anzuziehen, weil er so schmutzig war, und er wollte damit auch nicht hinausgehen, weil er wusste, dass er dämlich aussah. Also blieb er noch eine Weile in der Scheune, hoffend und bangend zugleich, dass jemand aus dem Haus kommen würde. Ganz bestimmt waren das nette Leute, denn nur nette Leute kamen mitten in der Nacht aus dem Haus und deckten ein Kind mit einem Laken zu, das nach Himmel und Sonnenschein roch. Das war die hoffnungsfrohe Seite der Situation. Und trotzdem hatte er Angst.
Nach einer Weile wagte er sich doch aus der Scheune heraus, setzte sich im Schneidersitz hin, starrte auf das Haus und wartete.
Alle hatten ihn sofort bemerkt und fingen an, Ah und Oh zu rufen, als würden sie tatsächlich beobachten, wie ein Kalb geboren wurde. Alle außer Toy, dem längst klar war, von wem Samuel sprach, und Bernice, die einfach nicht die gleichen Dinge aufregend fand wie alle anderen.
»Da ist er! Da ist er!«, jauchzte Noble. Und Bienville sagte: »Mich trifft der Schlag.« »Sieht er nicht süß aus in Bienvilles Sachen?«, rief Calla aus.
Willadee sah Samuel an. Sie war stolz auf das, was er getan hatte. Doch er blickte nicht zurück. Er war viel zu bewegt, um jemandem in die Augen zu sehen, selbst Willadee.
Swan lief zur Tür.
»Ich glaube, ihr lasst mich besser mit ihm reden«, sagte sie. »Ich kann gut mit kleinen Kindern umgehen.«
Willadees geistiges Notizbuch wurde immer voller.
Blade rührte keinen Muskel, als er Swan aus dem Haus stürmen und auf ihn zukommen sah. Im Nu war sie über den Hof gelaufen und stand vor ihm, bevor er noch richtig wusste, wie ihm geschah.
»Lass dir nicht anmerken, dass du mich kennst«, zischte sie. »Meine Eltern könnten böse werden, wenn sie erfahren, dass ich dich in meinem Zimmer hab schlafen lassen.«
Blade bekam ganz große runde Augen und wollte aufstehen, um wegzulaufen. Er war nicht gern in der Nähe von Leuten, wenn die böse wurden. Swan legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.
»Keine Angst«, beruhigte sie ihn, »wenn sie böse werden, passiert nicht viel.«
Blade entspannte sich ein wenig.
»Wieso hast du letzte Nacht in unserer Scheune geschlafen?«, fragte Swan.
Blade zuckte vielsagend mit den Schultern.
»Ich meine, das ist schon in Ordnung«, sagte Swan. »Es ist alles in Ordnung. Ich hab mich bloß gewundert.«
Wieder zuckte Blade mit den Schultern und zog sich Bienvilles Hose bis zu den Achselhöhlen hoch, damit sie nicht herunterrutschte.
Swan legte ihm einen Arm um die Schultern und sah ihn verschwörerisch an.
»Ich wette, du hast Hunger«,
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