Die Geschichte eines Sommers
Übrig gebliebenes Maisbrot lag immer unter einem Küchentuch hinten auf dem Herd. In letzter Zeit war er dort sogar schon mal auf ein Stück Kuchen oder eine Scheibe Pastete gestoßen. Andere Reste lagen im Kühlschrank, manchmal in einer abgedeckten Schüssel, aber meistens in Schraubgläsern. Die waren ihm am liebsten, denn die konnte er einfach nehmen und mit ihnen verschwinden, statt in der Küche aus den Schüsseln zu essen und zu hoffen, niemand würde ihn hören. Blade nahm an, dass Frauen an ihren Schüsseln hingen und verärgert waren, wenn eine verschwand, doch bisher hatte sich noch niemand, so wie er es mitbekommen hatte, über ein verschwundenes Schraubglas aufgeregt.
Für einen Jungen in seinem Alter wusste er eine ganze Menge, doch er wusste längst nicht alles. Zum Beispiel wusste er nicht, dass Samuel Lake manchmal im Dunkeln im Wohnzimmer saß, wenn alle anderen schon ins Bett gegangen waren, über seine Situation nachdachte und überlegte, wie er sie verbessern könnte. Samuel hatte Blade schon mehrmals gesehen, wie der sich mit einem Glas grüner Bohnen und einem Stück Maisbrot davonschlich, und wollte nun testen, ob der Junge kam, indem er nach dem Abendessen seinen Nachtisch auf dem Herd stehen ließ. »Für später«, erklärte er Willadee jedes Mal, falls er in der Nacht Hunger kriegen sollte.
In dieser Nacht, als Samuel wieder im Wohnzimmer saß und bemerkte, wie Blade sich aus dem Haus schlich, ging er ihm nach. Leise und mit ausreichendem Abstand, damit der Junge nicht merkte, dass er verfolgt wurde.
Blade verkroch sich in der Scheune, um dort genüsslich sein Abendessen zu verspeisen. Als er fertig war, versteckte er die Gläser unter einem Haufen verdorbenem Heu, wo sich bereits etliche Gläser stapelten, kroch dann ins Stroh und rollte sich zusammen wie ein Fuchs in seiner Höhle.
Er schlief.
Irgendwann in der Nacht bedeckte ihn ein Laken wie eine flauschige Wolke, und darauf lag eine Garnitur sauberer Kleidung. Das Laken roch so frisch wie der Sonnenschein, und als bei Tagesanbruch das erste Licht durch die Ritzen der alten Scheunenwände drang, brauchte Blade einige Sekunden, um wach zu werden und zu verstehen, was passiert war und was das zu bedeuten hatte.
Es bedeutete, dass er zu Hause war.
20
Beim Frühstück fragte Samuel die anderen, ob ihnen schon mal ein kleiner schwarzhaariger Junge aufgefallen sei, der sich hier herumdrückte und aussah, als hätte er kein Zuhause. Alle machten ein verblüfftes Gesicht, ganz besonders aber Swan. Sie sagte, sie habe bestimmt noch nie einen kleinen schwarzhaarigen Jungen bei ihnen herumlungern sehen, habe noch nie eine Menschenseele hier herumlungern sehen, denn hätte sie es getan, hätte sie selbstverständlich sofort einem Erwachsenen Bescheid gesagt.
Willadee, der auffiel, wie vehement ihre Tochter abstritt, jemanden gesehen zu haben, machte sich im Geiste eine Notiz, sich Swan später vorzuknöpfen.
»Ich hab den kleinen Kerl jedenfalls schon mehrmals gesehen«, sagte Samuel. »Erst letzte Nacht wieder, da hat er sich aus der Küche etwas zu essen geholt.«
Oma Calla schielte Samuel von der Seite an und zog die Augenbrauen so weit hoch, dass sie fast ihren Haaransatz berührten.
»Wieder«, sagte sie, und es klang halb wie eine Frage und halb wie ein Echo.
»Ich hätte wohl schon früher etwas sagen sollen«, räumte Samuel ein. »Seit Wochen sehe ich ihn kommen und gehen. Zuerst hab ich gedacht, er hat bestimmt eine Familie, die vielleicht nur gerade ein bisschen knapp bei Kasse ist, aber letzte Nacht hat mir zu denken gegeben.«
Dann erzählte er, wie er dem Jungen zur Scheune gefolgt war, wie dieser sich dort ins Heu eingebuddelt hatte, um zu schlafen, und dass er so mitleiderregend ausgesehen hätte wie ein kleiner Hund, der auf der Straße ausgesetzt worden war.
»Ich hab eins von deinen guten Laken genommen und ihn damit zugedeckt«, sagte Samuel zu Calla. »Ich hoffe, das macht dir nichts aus?«
Calla sagte, natürlich mache ihr das nichts aus, Laken seien schließlich dazu da, Menschen zuzudecken, ansonsten würde es ja keinen logischen Grund geben, welche zu besitzen.
Als Bienville erfuhr, dass Samuel außerdem ein paar von seinen Sachen in die Scheune gebracht hatte, weil der kleine Junge nur schmutzige Lumpen am Leib trug, richtete er sich so stolz auf, dass man hätte meinen können, er habe gerade erfahren, dass er mit Abraham Lincoln verwandt sei.
»Natürlich hab ich nichts dagegen, wenn er meine Sachen
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