Die Geschichte eines Sommers
sagte sie. »Komm, wir gehen jetzt ins Haus. Ich erzähl dir unterwegs, was du sagen darfst und was nicht, und dann macht dir meine Mama was zu essen.«
Bestimmt hat noch niemand je ein kleines Kind so viel essen sehen, wie Blade Ballenger an diesem Morgen aß, und bestimmt haben noch nie so viele Leute um jemanden herumgestanden und ihn fasziniert beim Essen beobachtet. Swan saß neben Blade, damit sie ihn mit dem Ellbogen anstoßen konnte, sollte er nicht mehr genau wissen, was er nicht sagen durfte. Allerdings stellte ihm niemand unangenehme Fragen. Hauptsächlich eher Fragen wie »Möchtest du noch etwas Butter auf die Pfannkuchen?« und »Ist in deinem Bauch noch Platz für ein paar Streifen Speck?«. Lauter Fragen, die er ausnahmslos mit Ja beantworten konnte. Von sich aus rückte er jedoch keine weiteren Informationen heraus. Ganz anders Swan.
»Er heißt Blade«, verkündete sie, als hätte sie das erst vor zwei Minuten erfahren. »Seine Eltern sind von dem Tornado fortgeweht worden. Er hat niemanden mehr, der sich um ihn kümmert. Ich denke, wir werden ihn wohl adoptieren müssen.«
Toy, der auf der anderen Seite des Raumes gegen einen Türpfosten gelehnt stand, wäre angesichts dieser faustdicken Lüge beinah umgekippt. Andererseits war ihm klar, warum Swan das gesagt hatte. Sie hatte an jenem Tag vor dem Laden mit eigenen Augen gesehen, wie Ras Ballenger den Jungen behandelte, und wollte nicht, dass er das noch länger ertragen musste.
Doch nicht nur Toy merkte, dass Swans Geschichte nicht wasserdicht war. Samuel war sich sicher, dass der Junge schon vor dem Sturm bei ihnen herumgeschlichen war. Und was Willadee und Calla betraf – die wussten es einfach, wann Swan log. Noble und Bienville hatten ihre Zweifel, nur Bernice, die weder Kinder noch mütterliche Instinkte noch Erfahrung mit Lügnern außer sich selbst besaß, schluckte die Geschichte mit Stumpf und Stiel.
»Man kann doch nicht einfach ein Kind adoptieren, bloß weil es keine Eltern mehr hat«, erklärte sie Swan.
»Er ist kein ›es‹«, brauste Swan auf.
»Nein, natürlich nicht. Er ist ein kleiner Junge, der seine Familie verloren hat, und kleine Jungen, die ihre Familien verloren haben, müssen der Wohlfahrt übergeben werden. Zu ihrem eigenen Besten.«
Blade sah sie an, als wollte er sagen, er habe keine Ahnung, wovon sie rede, aber in seinen Ohren höre es sich nicht gut an.
»Vorläufig wird er niemandem übergeben«, wandte Oma Calla ein. »Du meine Güte, wir haben ja noch nicht mal die ganze Geschichte gehört.«
Sie forderte Swan mit einem Nicken auf fortzufahren, als glaube sie tatsächlich, dass plötzlich die Wahrheit aus dem Mund des Mädchens sprudeln würde.
Eigentlich hatte Swan nicht vorgehabt, mehr zu erzählen. Sie hatte mehr oder weniger erwartet, dass man Blade auffordern würde, bei ihnen zu bleiben, und das war’s dann auch. Im Grunde wusste sie natürlich, dass Blades Eltern versuchen würden, ihn zurückzuholen, doch über manche Dinge will man einfach nicht nachdenken, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Oma Calla sah Swan so erwartungsvoll an, dass sie irgendetwas sagen musste.
»Nun ja«, begann sie, »er ist ziemlich mitgenommen über den Verlust seiner Lieben …«
»Also bitte, Swan, Gott hört zu«, sagte Samuel.
Er hatte seinen Kindern beigebracht, stets die Wahrheit zu sagen und darauf zu vertrauen, dass Gott für einen guten Ausgang sorgen würde. Eigentlich schien es Swan, dass jetzt eine gute Gelegenheit gekommen war, um dieses Prinzip auf die Probe zu stellen, doch sie hatte sich schon zu weit vorgewagt, um noch einen Rückzieher zu machen.
»Ich weiß«, sagte sie mit sehr ernster Stimme. »Und auch Gott weiß, wie mitgenommen Blade ist.«
Samuel brachte es nicht fertig, Swan wegen dieser Lüge zur Rede zu stellen. Jedenfalls nicht in diesem Augenblick, wo dieser kleine Junge sie ansah, als wäre sie ein menschgewordener Engel des Lichts, und Samuel einen Blick zuwarf, als hielte der sein Leben in Händen.
Also machte statt Swan Samuel einen Rückzieher.
»Wir können uns die vollständige Geschichte sicher auch später anhören.«
Swan war erleichtert, dass er das sagte.
»Ich muss jetzt erst mal zur Arbeit«, fuhr Samuel fort, »und ihr Kinder müsst sicher ein bisschen im Haushalt helfen.«
»Ach, heute brauchen sie nicht zu helfen«, sagte Oma Calla gut gelaunt. »Sie haben gestern so viel geholfen, dass ich mich noch immer nicht ganz davon erholt habe.«
Sobald die Kinder
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