Die Geschichte eines Sommers
er Ras mit wiegenden Schritten zum Bordstein stolzieren sehen, wo der rote Ford Apache parkte. Die Sommersonne schien auf die bronzene Haut und die nachtschwarzen Haare des Mannes und ließ ihn tatsächlich schimmern wie eine glänzende Wassermokassinotter.
Während Early beobachtete, wie Ras in seinen Truck stieg und losbretterte, konnte er sich den Gedanken nicht verkneifen, dass der Tod dieses Mannes längst überfällig war. Doch bis ihn endlich jemand ins Jenseits beförderte, konnte leider niemand wissen, wer oder was noch unter ihm leiden würde. Early hätte nichts dagegen gehabt, diese ehrenvolle Aufgabe so schnell wie möglich eigenhändig zu übernehmen.
19
Wenn ihm nicht irgendein Ausweg einfiel, würde er sehr bald Odell Pritchett anrufen müssen, um ihm zu sagen, dass sein Pferd verschwunden war, das war Ras klar. Es ärgerte ihn maßlos, zugeben zu müssen, dass es verschwunden war, wenn das doch eigentlich gar nicht stimmte. Das Pferd war bloß nicht an dem Ort, wo es hätte sein sollen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, es zurückzubekommen.
Doch es gab keine. Er war bereits zu weit gegangen, als er bei Early Meeks sein Maul darüber aufgerissen hatte, wie das Pferd gestohlen worden war. Nun wusste der Sheriff, von wo das Pferd gestohlen worden oder weggerannt war, und dort würde er auch als Erstes nachsehen, wenn es ein zweites Mal verschwand.
Als Ras nach Hause kam, erledigte er die üblichen Arbeiten auf dem Hof, aß, was Geraldine ihm vorsetzte, und holte jedes Mal drohend mit der Hand aus, sobald sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen. Nicht mal mit Blue redete er.
Den Anruf bei Odell schob er auf, weil er immer noch keine Ahnung hatte, wie er die Sache erklären sollte. Er hatte auch noch nicht angefangen, nach Blade zu suchen, obwohl Geraldine darum bettelte und rumflennte. Er hatte keine Eile. Sollte der kleine Scheißer doch mal sehen, wie es sich anfühlt, hungrig im Freien zu schlafen. Und in ein bis zwei Tagen würde er dann sehen, was ihm sonst noch blühte.
Den Nachmittag über versteckte sich Blade Ballenger in der Nähe des Bachs und beobachtete die Lake-Kinder, die Outlawsjagen spielten. Doch eigentlich hielt sich die Verfolgungsjagd in Grenzen, da sie viel zu sehr mit dem Pferd beschäftigt waren. Sie führten es an den Bach, damit es trinken konnte, kraulten es hinter den Ohren und am Bauch, und wenn sich das Tier ins hohe Gras legte, legten sie sich darum herum und benutzten es als Kopfkissen.
Blade hätte gerne mit ihnen gespielt, wagte sich jedoch nicht aus seinem Versteck. Er glaubte zwar nicht, dass das Mädchen ihn bei ihren Eltern verpfeifen würde – schließlich hatte Swan ihn schon in ihrem Bett schlafen lassen –, aber bei den Jungen war er sich nicht so sicher. Außerdem waren diese Kinder ordentlich angezogen und einigermaßen sauber, während er noch immer in den Sachen von letzter Nacht steckte, in dem zerlumpten Shirt und der Unterwäsche. Alles war schmutzig von seinem Blut, dem Pipi seines Bruders und dem Dreck unter dem Haus, wo er sich verborgen gehalten hatte, nachdem er heute Morgen aus dem Fenster gesprungen war. Er war dort liegen geblieben und hatte kaum gewagt zu atmen, bis sein Daddy mit dem Truck vom Hof gerast war. Dann war er schnurstracks in den Wald gelaufen.
Und nun war er hier. Er konnte nicht nach Hause und auch sonst nirgendwohin. Er konnte nur still dasitzen und beobachten, wie die Kinder mit dem Pferd spielten, das er gerettet hatte, und darauf warten, dass etwas passierte.
Doch während er immer länger still saß, fiel es ihm zusehends schwerer, die Augen offen zu halten. Er war todmüde und hatte Hunger, da er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Seine Augen waren trocken und die Lider kratzig, also wollte er kräftig blinzeln – und das reichte auch schon. Sobald seine Augenlider sich berührten, mochten sie sich nicht mehr voneinander lösen. Als sie es schließlich wieder taten, war es dunkel, und die Kinder waren fort.
Blade war schon oft genug im Haus der Moses gewesen, er wusste genau, wie das Leben dort ablief. Er wusste, welche Lichter zuerst ausgeschaltet wurden, wenn die Familie schlafen ging, und welche mehrmals wieder angeschaltet wurden, bevor schließlich alle Fenster in Dunkelheit versanken.
Er wusste, wie man sich nachts unbemerkt über den Hof schleichen konnte, und auch, wo man in der Küche hintreten musste, um den knarrenden Dielen auszuweichen. Genauso wusste er, wo alles aufbewahrt wurde.
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