Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition)
Evas gelernt hatte, vergaß man nicht. Für Toby wäre es nahezu unmöglich gewesen, die Painballer ausgerechnet an jenem Abend zu töten – sie kaltblütig zu ermorden, also abzuschlachten, und sie waren ja auch mittlerweile fest an den Baum gebunden.
Amanda und Ren hatten das übernommen. Sie waren zusammen bei den Gärtnern zur Schule gegangen, wo sie viel Handwerkliches gelernt und Materialien recycelt hatten, und sie kannten sich mit Knoten aus. Als sie fertig waren, sahen die beiden Typen aus wie ein Stück Makramee.
An jenem gesegneten Sankt-Juliana-Abend also hatte Toby die Waffen zur Seite gelegt – ihre eigene altmodische Flinte und das Spraygewehr der Painballer, und auch Jimmys Spraygewehr. Dann spielte sie die gute Fee, schenkte Suppe aus, verteilte Nahrung an alle.
Ihr Edelmut muss ihr selbst die Sinne benebelt haben. Alle dazu zu bewegen, sich abends gemütlich an ein Lagerfeuer zu setzen und zusammen Suppe zu löffeln – auch Amanda, die traumatisiert, ja fast katatonisch war; auch Jimmy, der vor Fieber am ganzen Leib zitterte und zu einer toten Frau in den Flammen sprach. Auch die beiden Painballer: Glaubte sie wirklich, die beiden würden ein Bekehrungserlebnis haben und auf einmal lammfromm sein? Ein Wunder, dass sie beim Austeilen der Knochensuppe nicht auch noch eine Predigt hielt. Ein Löffel für dich, ein Löffel für dich und einer für dich! Legt Hass und Bosheit ab! Kommt hinein ins Licht!
Aber Hass und Bosheit machen süchtig. Sie können wie ein Rausch sein. Nur ein Mal davon gekostet, und schon geht’s einem dreckig, wenn man nicht bald mehr bekommt.
Während sie die Suppe aßen, hörten sie Stimmen, die sich unter den Bäumen am Ufer auf sie zubewegten. Es waren die Kinder des Crake, die Craker – die seltsamen gengespleißten Beinahe-Menschen, die am Meer lebten. Sie gingen im Gänsemarsch unter den Bäumen her, trugen Fackeln aus Pechkiefer und sangen ihre kristallinen Lieder.
Toby hatte diese Leute nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen, und zwar bei Tag. Jetzt, leuchtend im Mondlicht und im Schein der Fackeln, waren sie noch schöner. Sie hatten alle Farben – Braun, Gelb, Schwarz, Weiß – und alle Größen, aber jeder für sich war vollkommen. Die Frauen lächelten gelassen; die Männer waren in vollem Brunftmodus mit Blumen in der Hand, und ihre nackten, idealisierten Körper sahen aus wie aus einem Comic für Vierzehnjährige, jeder Muskel definiert, jedes Muskelspiel ein Schimmern. Sie wedelten wie freundliche Hunde mit ihren leuchtend blauen und unnatürlich großen Penissen.
Anschließend konnte sich Toby nicht mehr genau an den Ablauf des Geschehens erinnern, wenn man denn von einem Ablauf sprechen konnte. Eher hatte es etwas von einer Straßenschlacht im Plebsland: hektische Bewegungen, ineinander verknäulte Körper, eine Kakophonie von Stimmen.
Wo ist das Blau? Wir riechen das Blau! Seht, da ist Schneemensch! Er ist dünn! Er ist sehr krank!
Ren: Oh, Scheiße, die Craker. Was ist denn, wenn die jetzt … Guckt doch mal, was die für … Verdammt!
Die Crakerfrauen entdeckten Jimmy: Lasst uns Schneemensch helfen! Wir müssen ihn beschnurren!
Die Crakermänner nahmen Amandas Witterung auf: Sie ist die Blaue! Sie riecht blau! Sie will sich mit uns paaren! Gebt ihr die Blumen! Sie wird glücklich sein!
Amanda, verängstigt: Fasst mich nicht an! Ich will nicht … Ren, hilf mir. Vier große, bildschöne, blumentragende nackte Männer gehen auf sie zu. Toby! Mach was! Knall sie ab!
Die Crakerfrauen: Sie ist krank. Erst müssen wir sie beschnurren. Dann wird sie gesund. Und sollen wir ihr einen Fisch geben?
Die Crakermänner: Sie ist blau! Sie ist blau! Wir sind glücklich! Singt für sie!
Die andere ist auch blau.
Der Fisch ist für Schneemensch. Wir müssen diesen Fisch aufheben.
Ren: Amanda, vielleicht nimmst du einfach nur die Blumen, sonst werden sie noch sauer oder …
Toby, mit schütterer, wenig eindringlicher Stimme: Bitte, hört zu, bleibt stehen, ihr macht ihr Angst …
Was ist das? Ist das ein Knochen? Einige der Frauen spähen in den Suppentopf: Esst ihr diesen Knochen? Er riecht nicht gut.
Wir essen keine Knochen. Schneemensch isst keine Knochen, er isst einen Fisch. Warum esst ihr einen stinkenden Knochen?
Es ist der Fuß von Schneemensch, der wie ein Knochen stinkt. Wie ein Knochen, den die Geier zurückgelassen haben. O Schneemensch, wir müssen deinen Fuß beschnurren!
Jimmy, fiebrig: Wer bist du? Oryx? Aber du bist doch
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