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Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition)

Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition)

Titel: Die Geschichte von Zeb: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sie um zusätzliche Wählerstimmen buhlten. Vorausgesetzt, es gibt dann überhaupt noch Menschen; und vorausgesetzt, sie können überhaupt noch lesen; beides, wenn man’s recht bedenkt, ist eher fraglich. Und selbst wenn noch gelesen würde, wird sich irgendwer in der Zukunft für das Wohl und Weh einer obskuren, dann geächteten und aufgelösten Ökosekte interessieren?
    Vielleicht kann sie eine solche Zukunft mitgestalten, indem sie tut, als glaubte sie daran; genau so etwas hätten die Gärtner auch gesagt. Sie hat kein Papier, aber sie könnte Zeb bitten, ihr von seinem nächsten Sammelstreifzug welches mitzubringen; vorausgesetzt, er treibt welches auf, das noch nicht verschimmelt ist, zu Nestbauzwecken von Mäusen angeknabbert oder von Ameisen gefressen wurde. Ach ja, und Bleistifte. Oder Kugelschreiber. Oder Wachsmalstifte. Dann könnte sie einen Anfang machen.
    Wobei es eher schwierig ist, sich auf die Idee einer Zukunft zu konzentrieren. Sie ist viel zu sehr in der Gegenwart eingetaucht: Die Gegenwart umfasst Zeb, die Zukunft vielleicht nicht.
    Sie sehnt sich nach heute Abend, sie sehnt sich danach, den gerade erst begonnenen Tag zu überspringen und sich kopfüber in die Nacht zu stürzen wie in ein Schwimmbecken; ein Schwimmbecken im Mondlicht. Sie sehnt sich danach, in flüssigem Mondlicht zu schwimmen.
    Aber nur für die Nacht zu leben ist gefährlich. Der Tag wird irrelevant. Man wird sorglos, man kann Details übersehen, man kann den Überblick verlieren. In letzter Zeit erwischt sie sich dabei, wie sie, eine einzelne Sandale in der Hand, in ihrem Zimmer steht und sich fragt, was sie hier tut; oder sie steht draußen unter einem Baum, sieht den Wind durch das Laub streichen, und dann ermahnt sie sich: Los. Beweg dich. Du musst jetzt unbedingt … Nur, was eigentlich?
    Es ist nicht sie allein, und nicht nur ihr Nachtleben ist dafür verantwortlich. Dieses Erschlaffen hat sie auch bei den anderen bemerkt. Dieses grundlose Stehenbleiben, dieses Horchen, obwohl niemand spricht. Und wie sie sich dann, sichtlich bemüht, einen Ruck geben und zurückholen ins Greifbare. Wie sie sich im Garten beschäftigen, mit den Zäunen, der Solaranlage, dem Anbau … Es ist verlockend, sich treiben zu lassen, wie es die Craker offenbar tun. Sie kennen keine Feiertage, keinen Kalender, keine Termine. Keine langfristigen Ziele.
    Sie erinnert sich noch gut an diesen Schwebezustand, es war wie in den Monaten, als sie sich allein im AnuYu verbarrikadiert hatte, um den Virus auszusitzen, der alle anderen dahinraffte. Und als niemand mehr weinte, niemand mehr flehte und gegen die Tür hämmerte, als keine Menschen mehr tot auf dem Rasen zusammenbrachen, blieb nur noch das Warten. Warten auf ein Zeichen, dass es Überlebende gab. Warten auf die Rückkehr sinnvoller Zeit.
    Sie hatte ihren Tagesablauf: Sie hatte genug gegessen und getrunken, hatte die Stunden mit kleinen Aktivitäten gefüllt, hatte Tagebuch geführt. Hatte die Stimmen abgewehrt, die in ihren Kopf drängten, wie es Stimmen gern tun, wenn man allein ist. Sie widerstand der Versuchung, einfach wegzugehen, hinaus in die Wälder, die Tür zu öffnen und zu akzeptieren, was ihr widerfahren sollte, oder, um ehrlicher zu sein, ihrem Leben ein Ende zu machen. Ein Ende.
    Sie war wie in Trance, wie eine Schlafwandlerin. Gib dich auf. Gib auf. Werde eins mit dem Universum. Warum nicht. Es war, als wenn etwas oder jemand ihr zuflüsterte, sie in die Dunkelheit locken wollte: Komm her, komm rüber. Mach Schluss. Es wird eine Erleichterung sein. Es wird die Vollendung sein. Es wird nicht sehr weh tun.
    Sie fragt sich, ob dieses Geflüster teilweise auch schon in den Ohren der anderen anfängt. Einsiedler in der Wüste haben solche Stimmen gehört, und Gefangene in Kerkern. Aber vielleicht ja auch nicht; es ist schließlich nicht wie das AnuYu, man ist hier nicht in Isolationshaft; man ist in Gesellschaft. Dennoch ist ihr klar, dass sie jeden Morgen die Köpfe durchzählt, sich vergewissert, dass die MaddAddamiten und Exgärtner alle noch da sind; dass niemand in der Nacht davongestreunt ist, hinein in das Labyrinth aus Laub und Zweigen, Gezwitscher und pfeifendem Wind und Stille.
    Draußen vor ihrem Durchgang klopft jemand an die Wand. »Bist du da drin, o Toby?« Es ist der kleine Blackbeard, der nach ihr sehen will. Vielleicht teilt er auf irgendeine Weise ihre Ängste und will nicht, dass sie weggeht.
    »Ja«, sagt sie. »Ich bin hier. Warte da draußen.« Rasch hüllt

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