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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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sie unweigerlich so lange fortsetzen, bis ich den Hörer abgenommen habe. Mir fällt die verheerende Wirkung ein, die
     dieser Anruf vier Wochen zuvor auf mich hatte. Und diese Erinnerung steigert meine augenblickliche Empfindung ins unermeßliche
     und lähmt mich immer mehr. Ich schlängle mich zwischen den Tischen der Cafeteria hindurch, den Blick starr geradeaus gerichtet.
     Ich habe das deutliche Gefühl, verfolgt zu werden, nicht wie Kain vom Auge Gottes, nein, schlimmer noch, von meinem eigenen
     Namen. Je öfter er wiederholt wird, desto mehr verstärkt sich dieser Eindruck …
    Diese endlose Wiederholung und diese unbeteiligte Stimme haben etwas Unmenschliches an sich. Man spürt genau, diese Stimme
     ist nur das Instrument des Schicksals, ich selbst und mein Los gehen sie nichts an. Weder Haß noch Liebe noch Ungeduld. Allein
     durch ihre Art, mich zu rufen, stürzt sie mich in die Anonymität. Die Toten, die am Eingang zur Hölle Schlange stehen, dürften
     nicht anders gerufen werden …
    Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Die Lautsprecher im Korridor greifen es auf, und weil das Echo hier in
     dem engen Korridor von einem Ende zum andern zurückgeworfen wird, schwillt der Ton fast zu einer Drohung an. Ich bin erleichtert,
     als ich Mr. Barrow auf der Schwelle zu seinem Büro erblicke, der mir bedeutet, mich zu beeilen. Ich beschleunige meinen Schritt,
     erreiche ihn, und er weicht aus, für meine Hast jedoch nicht schnell genug: als ich ins Zimmer trete, stoße ich mit meinem
     Ellbogen gegen seinen Schmerbauch. Mr. Barrow stößt einen spitzen Schrei aus, wie ein sexuelles Neutrum; ich murmele eine
     Entschuldigung und werfe gleichzeitig einen kurzen, fachmännischen Blick auf seinen |292| Bauch, als ob ich erwartete, ihn wie eine Geschwulst platzen zu sehen.
    Der Hörer liegt nicht auf dem Tisch, sondern befindet sich noch auf dem Apparat, und ich stelle mir die Frage, warum Helsingforth
     mich unbedingt persönlich kommen läßt, anstatt beim Verwalter eine Nachricht zu hinterlassen. Da sie nichts ohne Absicht macht
     und da ihre Absichten im allgemeinen bösartig sind, vermute ich, daß sie die Vorstellung genießt, Mr. Barrow zu beunruhigen,
     indem sie ihn ausschaltet.
    Ich nehme den Hörer ab, und die Stimme der Telefonistin verläßt den Lautsprecher, um an meinem Ohr hörbar zu werden.
    »Dr. Martinelli?«
    »Ja.«
    »Ich verbinde Sie mit Ihrem Gesprächspartner.«
    Lange Pause. Aus dem Augenwinkeln sehe ich, wie Mr. Barrow, den glänzenden Schädel nach vorn geneigt, mit betonter Diskretion
     die Tür seines Büros wieder zumacht.
    »Dr. Martinelli«, sagt Helsingforths Stimme.
    Diese beiden Worte hallen wie ein Faustschlag auf den Tisch. Helsingforth spricht sofort weiter, sobald ich ja gesagt habe.
     Weshalb muß diese Frauenstimme zehnmal lauter, herrischer und brutaler als die Stimme des eingefleischtesten Phallokraten
     sein? Ich sehe auf meine Uhr: ungeachtet der langen Reise läßt sie mir nicht einmal eine halbe Stunde Zeit zur Vorbereitung.
     
    Trüber Weg auf Schuschka unter einem einförmig grauen Himmel, und hinter mir Jackie, die während der anderthalb Stunden vom
     Fuß des Wachtturms bis zu Helsingforths Luxushütte weder ein Wort noch einen Blick noch ein Lächeln für mich übrig hat. Ich
     wende mich mehrmals auf meinem Sattel um und stelle ihr zweimal harmlose Fragen. Sie antwortet nur einsilbig. Und dabei bleiben
     ihre schönen grauen Augen – die mir Gott weiß warum immer grün erscheinen, vielleicht wegen der schwarzen, sehr dichten Wimpern,
     die sie umrahmen – auf die Mähne ihres Wallachs geheftet.
    Mich überkommt eine Empfindung, die ich schon immer gehabt habe und die durch meine augenblickliche Beklemmung nur noch verstärkt
     wird: wenn eine Frau mich nicht beachtet, |293| habe ich das Gefühl, von ihr im Stich gelassen zu werden. Nein, nein, das ist nicht Eitelkeit, sondern etwas völlig anderes:
     ein enttäuschtes Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und als ich mich in der vorletzten Biegung vor der Koppel ein letztes Mal nach
     meiner Eskorte umdrehe, verwirrt mich eins noch mehr: daß ihr Gesicht nicht wirklich unbeteiligt ist. Feine Linien verlaufen
     zwischen Augen und Brauen, ziehen sich bis zu ihren Mundwinkeln. Ich sehe, wie es wirklich um ihre seelische Verfassung bestellt
     ist: sie ist unruhig. Und wenn es meiner bis an die Zähne bewaffneten Leibwache in solchem Maße an Zuversicht fehlt, wird
     meine Zuversicht gewiß nicht

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