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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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praktische Intelligenz, an der ich die Methode schätze, diese unermüdliche Arbeiterin,
     die als erste kommt und als letzte geht, scheint einem sechzehnjährigen Mädchen Platz gemacht zu haben, das den ganzen Tag
     lacht, Scherze macht und singt (natürlich leise und ohne darüber ihre Aufgaben zu vernachlässigen).
    Meine Fragen bringen mich nicht weiter. Warum ist sie so fröhlich? Weil sie so erleichtert ist bei dem Gedanken, mich bald
     los zu sein, sagt sie lachend. Daraufhin lacht sie weiter und fängt wieder mit meinem Schnurrbart an. Er ist eine unerschöpfliche
     Quelle ihrer Scherze: ich sehe aus wie ein Abenteurer, ein Vagabund, ein Gigolo. Wie aus einem Gangsterfilm der dreißiger
     Jahre à la Paul Muni oder George Raft entsprungen, oder wie ein Präsidentschaftskandidat in einem lateinamerikanischen Staat,
     oder einfach wie ein Kellner in einem italienischen Restaurant. Meine sexuelle Anziehungskraft hat sich um achtzig Prozent
     erhöht, »mit einer vulgären Note, wohlgemerkt, aber ich weiß, daß Ihnen das nicht mißfällt«. Im übrigen sei sie selbst nicht
     unempfänglich dafür. Und bevor ich fliehe, müsse ich sie auf den Mund küssen. So werde sie erfahren, was die Frauen der dreißiger
     Jahre zum Erschauern brachte.
    Ein weiteres, neu hinzugekommenes und ziemlich verwirrendes Element: während sie vorgibt, froh über meine Flucht zu sein,
     verhält sie sich mir gegenüber provokatorisch, was sie |290| sonst nie gewesen ist. Der Biß in den Zeigefinger war lange Zeit die einzige Ausnahme bei sonst strikter Distanz. Als sie
     mir ihre Zuneigung gestand, hatte sie mir deutlich zu verstehen gegeben: kein Händedruck, nicht die leiseste Berührung, kein
     Blick.
    Das liegt hinter uns. Sobald Burage in mein Büro kommt, richtet sie ihre geweiteten Augen auf mich und setzt, während sie
     von diesem und jenem redet, eine Art Tanz in Szene. Es ist nicht mehr zu zählen, wie oft sie die Mähne schüttelt, den Hals
     biegt, den Oberkörper verdreht. Und erst die Stimme! Einmal ist sie belegt, dann verschleiert, dann »einnehmend«. Burage tänzelt
     um mich herum, schnuppert, stößt leise kehlige Laute aus, die an das Gurren der Tauben erinnern. Es kommt sogar vor, daß sie
     ihre Hand neben die meine auf den Tisch legt und unbeabsichtigt ihren Arm gegen meinen preßt. Gestern stellt sie sich mit
     einer Akte in der Hand hinter mich, legt ein Blatt Papier auf den Tisch und liest mit mir zusammen; im Eifer vergißt sie ihren
     Körper und lehnt sich mit der Brust an meine Schulter. Ich spüre ihren Atem so nahe, daß ich fast erwarte, sie wird mir einen
     Kuß auf den Nacken drücken. Nein, sie muß sich rechtzeitig gebremst haben. Aber ich höre, wie ihr Atemrhythmus wechselt, mehr
     noch, ich spüre ihn ganz deutlich in Höhe meines Schulterblattes. Ich diagnostiziere eine Beschleunigung des Herzschlages,
     erotischen Ursprungs. Ich könnte fast im selben Augenblick für mich die gleiche Diagnose stellen.
    Ich beschreibe diese Verhaltensweisen, ohne sie verstehen zu können. Ich begreife nicht den Zusammenhang – falls es einen
     solchen gibt – zwischen meiner Flucht und Burages Fröhlichkeit oder, was noch erstaunlicher ist, zwischen dem Aufruhr ihrer
     Gefühle und unserer Trennung. Andererseits hat Burages seltsames Verhalten eine wohltuende Wirkung: es beschäftigt mich so,
     daß es mich von meiner Beklemmung ablenkt. Mir fällt auf, daß ich seit kurzem während meiner schlaflosen Stunden mehr an Burage
     als an Helsingforths Anruf denke.
    Er kommt trotzdem. Es geschehen keine Wunder. Am Sonntag, dem 28. Juni, dreizehn Uhr, dringt in der Cafeteria die Stimme der
     Telefonistin aus dem Lautsprecher und wiederholt unaufhörlich ihre Aufforderung: Dr. Martinelli … Dr. Martinelli … Dr. Martinelli
     … Ich hasse diese laute, seelenlose |291| Stimme, die wie ein Urteilsspruch vom Himmel auf mich herabfällt, während im Saal Schweigen eintritt und sich alle Blicke
     auf mich richten. Was ich zumindest annehme, denn ich sehe außer Dave niemand an. Ich tätschele ihm die Schulter, und es gelingt
     mir, ihm mit einer Zuversicht zuzulächeln, von der ich selbst weit entfernt bin. Nach besten Kräften erhalte ich die Rolle
     des heldenhaften Vaters aufrecht, die er mir zugedacht hat. Doch sobald ich mich umgedreht habe, um zu gehen, fühle ich mich
     verlassen, wie ein den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfener Christ. Die Telefonistin hört nicht auf mit ihrer eintönigen Litanei
     und wird

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