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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Herz hat, ist er am Anfang unzugänglich. Immer aufgebracht, mit kampflustigen Brauen
     und verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln wettert, schimpft, flucht, murrt er, und das in verschiedenen Sprachen. Seine Ausbrüche
     erfolgen auf jiddisch. Es zuckt überall in seinem Gesicht, und er hat eine Menge kleiner Manien, von denen die unangenehmste
     ist, daß er dich ständig daran erinnert, daß er Jude ist oder, was auf das gleiche hinausläuft, daß du keiner bist. Das tut
     er mit einem Blick, der gleichzeitig durchdringend, herausfordernd und mißtrauisch ist, als ob er versuchte, beim anderen
     den kleinsten Schimmer von Antisemitismus aufzudecken, der ihm bis dahin entgangen sein könnte.
    Stien ist ein bedeutender Biologe, der viel veröffentlicht hat, doch gebe ich zu, daß ich seine Arbeiten nicht gelesen habe,
     während seine Neugier so weit ging, die Nase in die Bücher und Publikationen zu stecken, die ich von der Bibliothek des Schlosses
     ankaufen ließ. Er ist also recht gut über das »Pro jekt « informiert, das ich leite, obgleich er vorgibt, nichts davon zu wissen, um die von uns verlangte Geheimhaltung zu wahren.
    Ich spreche von Jespersen und Stien, weil sie meine Freunde geworden sind, doch gibt es noch zahlreiche andere Wissenschaftler,
     die an den drei »Projekten« beteiligt sind. Ihre Frauen und ihre Kinder leben mit ihnen, jede Kleinfamilie in einer gesonderten
     Baracke. Doch nehmen wir unsere Mahlzeiten gemeinsam im Schloß ein. Und abends veranstalten wir in den Salons intime Familienzusammenkünfte,
     die wir mit Leben zu erfüllen versuchen. Manchmal singen und tanzen wir und spielen sogar Theater. Doch alle diese Zerstreuungen
     wirken, vermutlich wie bei Gefangenen, gequält und ein bißchen irreal.
    Ich bin natürlich kein Gefangener. Ich bin ein
protected man
, ein PM. Aber mir entgeht nicht, daß jedermann in Blueville, mit Ausnahme der Betroffenen und ihrer Frauen, diese Anfangsbuchstaben
     PM mit einem gewissen Hohn ausspricht. Das ist nicht Mangel an Höflichkeit. Wenn es nur daran läge, wäre es leicht, dem abzuhelfen.
     Nein, das alles ist viel subtiler. Man |37| läßt uns spüren, daß wir unserer Arbeit wegen geduldet werden, aber keinerlei Anspruch auf Achtung und noch weniger auf Sympathie
     haben.
    Im übrigen ist der Schutz, den wir genießen, widerruflich. Mrs. Helsingforth hat sich in dem Vertrag, den wir mit ihr abschließen
     mußten – ohne sie zu Gesicht zu bekommen, keiner von uns hat sie je gesehen –, mit dem Recht des Stärkeren die Klausel vorbehalten,
     diesen Vertrag zu jedem Zeitpunkt zu kündigen und uns nach Belieben wieder in die Hölle der Außenwelt zu verstoßen.
    Was mich betrifft, fühle ich mich noch mehr auf Bewährung als meine Gefährten. Die Wichtigkeit meiner Forschung müßte eigentlich
     meine Angst vor einer Entlassung zerstreuen. Nichts von alledem. Ich fühle mich keineswegs gegen eine solche Entscheidung
     gefeit. Ich sage »fühlen«, weil sich meine Vermutung lediglich auf kaum wahrnehmbare Anzeichen stützt. Dennoch hat sie sich
     immer mehr verstärkt. Ich überlebe, aber in der Angst vor dem morgigen Tag.
    Trotz Dave fühle ich mich ziemlich einsam, besser gesagt: verlassen. Anita, die jetzt ganz oben zur Rechten der Präsidentin
     Bedford ihren Sitz hat, besucht mich einmal im Monat. Mir ist jedesmal wie einem Häftling zumute: die Abstände zwischen den
     Besuchen sind lang, und der Besuch ist kurz. Deshalb empfange ich Anita mit einem Gefühl der Trauer – und fast widerstrebend.
     Kaum ist sie angekommen, scheint es mir, daß sie schon wieder fort ist.
    Blueville hat etwas Militärisches an sich, und nicht nur wegen der bewaffneten Milizionärinnen, die uns bewachen: Der Tagesablauf
     ist streng geregelt, und es gibt viele Verbote.
    Um sieben wird man von einer Sirene geweckt. Um acht tut jeder gut daran, in seinem Laboratorium zu sein. Mittagessen ist
     Punkt dreizehn Uhr. Abendbrot um sieben. Nachtruhe um zehn.
    Das bedeutet, um zehn im Bett liegen zu müssen. Im übrigen ist man selbst daran interessiert, denn fünf Minuten vor zehn kündigt
     das zweimalige Aufheulen der Sirenen an, daß das elektrische Licht in den einzelnen Baracken ausgehen wird. Angeschaltet bleiben
     nur die Lampen auf dem Gelände und der mächtige Scheinwerfer des Wachtturms, der unablässig über die Wege zwischen den Baracken
     streicht. Wenn du nach der |38| festgesetzten Stunde außerhalb der eigenen Unterkunft überrascht wirst, kommt

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