Die geschützten Männer
sie auf, stellt sich an ein Fenster, das
sich gegenüber der Baracke der Milizionärinnen befindet, und verfolgt lange mit dem Fernglas, was sich dort abspielt.
Mutsch besitzt eine seltene Gabe: Sie kann zuhören. Sie folgt dem, was man ihr sagt, Schritt für Schritt. Und wenn sie etwas
nicht versteht, fragt sie. Als ich fertig bin, lächelt sie und sagt mit deutschem Akzent, der mich irgendwie beruhigt:
»Hören Sie auf, sich zu beschuldigen, Ralph. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn Ihre Frau tot ist. (Wieder einmal stelle ich fest,
daß weder Mutsch noch Joan Anita als meine wirkliche Frau betrachten.) Für Dave tun Sie Ihr Möglichstes.«
Halb ironisch, halb liebevoll sagt Mrs. Pierce: »Ralph hat ein zu weiches Herz, das ist alles.« Sie sagt es, ohne sich umzudrehen
und ohne die Baracke der Milizionärinnen aus den Augen zu lassen. Ein Beweis, daß ihre Ohren und ihre Augen zur gleichen Zeit
mit zwei verschiedenen Dingen beschäftigt sein können.
»Nein, nein, sagen Sie das nicht, Joan«, wirft Mutsch ein. »Man ist niemals zu weich! Ein Kind ist für Liebe unbegrenzt empfänglich.
Es dürstet nach Liebe! Es kann niemals genug bekommen!«
Ich erinnere sie an mein Problem.
»Wie erklären Sie es, daß Dave mich abweist, so wie heute abend?«
»Aber das ist völlig normal.«
»Normal?«
»Ja, Ralph, Sie müssen sich nur in das Kind hineinversetzen. Dave hat seine Mutter verloren. Er hat schreckliche Angst, auch
Sie zu verlieren. Deshalb klammert er sich an Sie. Glauben Sie, daß er sich beim Schwimmen vergnügt, wenn Sie Ihre Ausflüge
zu Pferd machen? Im Gegenteil: er wartet auf Sie. Und wenn Sie zu spät kommen, verliert er den Kopf. Deshalb habe ich Stien
hingeschickt (sie sagt wie wir alle »Stien«), ihm Bescheid zu geben, als ich hörte, daß Sie Pussy behandeln müssen.«
»Danke, Mutsch. Dave hat es mir gesagt.«
»Leider hat es nichts mehr genützt.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Er war nicht mehr fähig, aus dem Angstzustand herauszukommen, in den Ihre Abwesenheit ihn gestürzt hatte.«
|87| »In diesem Falle hätte er erleichtert sein müssen, mich wiederzusehen.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Das ist Ihre Erwachsenenlogik. Die bei einem Kind einmal ausgelöste Angst läßt sich nicht so schnell zurücknehmen. Die verstandesmäßige
Bremse ist zu schwach. Und dann geschieht folgendes: Dave bricht den Kontakt ab. Und das um so heftiger, je mehr er an Ihnen
hängt. Er zerreißt die Bande.«
Ich sehe sie an.
»Wollen Sie sagen, daß er mit mir bricht, um mich nicht zu verlieren?«
»Genau. Ein Akt der Verzweiflung.«
»Schrecklich«, sage ich vor mich hin.
»Aber nein«, erwidert Mrs. Pierce, ohne sich umzudrehen, das Fernglas immer noch vor den Augen. »Sie machen sich viel zuviel
Sorgen, Ralph. Das ist nicht so schlimm. Es ist auch Spiel dabei. Dave weiß genau, daß dieser Bruch nicht ernst ist. Er will
Sie vor allem bestrafen.«
»Und Ihre Liebe auf die Probe stellen«, sagt Mutsch.
Ich denke nach, und je länger ich nachdenke, um so mehr scheint mir, daß sie recht haben. Ich blicke sie an. Genauer gesagt,
ich blicke in Mutschs Gesicht und auf Mrs. Pierces Rücken. Ich bin voll Dankbarkeit und gleichzeitig etwas betäubt von der
überstarken Dosis weiblicher Klugheit, die ich schlucke.
»Und jetzt?« frage ich ein wenig ratlos.
»Jetzt hole ich Dave ab, bringe ihn zur Cafeteria, und wir setzen uns an Ihren Tisch«, sagt Mutsch.
Ich stehe auf.
»Vielen Dank, Mutsch. Vielen Dank für alles. Und entschuldigen Sie, daß ich das hier aus Ihrem Apothekenschränkchen genommen
habe.«
Weil ich nicht sage, was es ist, verläßt Mrs. Pierce aus Neugierde ihren Beobachtungsposten und trippelt zu uns heran. Als
sie das Röhrchen zu Gesicht bekommt, fängt sie an zu lachen.
»Nicht nur Dave ist nervös?«
»Glauben Sie, daß ich übertrieben ängstlich bin?«
»Aber sicher!« sagt sie.
Mutsch schaltet sich ein.
»Sie haben die Krankheit von Blueville, Ralph. Sie sind ängstlich. Dave auch. Was soll ein Kind wie Dave denken, |88| wenn weder die A.s noch die alleinstehenden Frauen ihm auch nur die geringste Beachtung schenken? Aber sich das Leben nehmen,
nein. Dave beschäftigt sich wohl mit dem Tod – mit Ihrem und mit seinem –, aber er wird sich nicht das Leben nehmen. Auf keinen
Fall. Beruhigen Sie sich! Verscheuchen Sie solche Gedanken!«
»Denken Sie lieber an angenehme Dinge«, sagt Mrs. Pierce. »Zum Beispiel an die hübschen
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