Die geschützten Männer
zurückdenken. Ich habe für die Dauer |82| eines Augenblicks die alte Komplizenschaft zwischen beiden Geschlechtern wiedergefunden, die für mich eine der Glücksempfindungen
des täglichen Lebens war.
Und vor allem begreife ich die Situation in Blueville jetzt besser. Was die PMs betrifft, gibt es eine »Linie«. Sie ist gewaltsam
von außen aufgezwungen worden, sie hat sich nicht verinnerlicht. Es stimmt nicht, daß alle Frauen uns hassen, im Gegenteil.
Meine Hochstimmung ist von kurzer Dauer. Wenige Minuten später stellt mich Dave vor ein ernstes Problem.
Als ich zu später Stunde meine Baracke erreiche, ist es dort dunkel, auch in Daves Zimmer. Ich mache Licht und finde auf seinem
kleinen Schreibtisch nicht den Zettel, den er gewöhnlich zurückläßt, um mir mitzuteilen, wo er ist. Ich bin beunruhigt, auch
wenn ich genau weiß, daß es absurd ist. Flucht ist in diesem von Stacheldraht umzäunten Gelände, an dessen einzigem Zugang
sich ein Wachtturm befindet, ausgeschlossen. Ich rufe im Swimmingpool an und erfahre, daß er dort vor einer Stunde weggegangen
ist. Zu den Baracken der anderen PMs habe ich keine telefonische Verbindung; so entschließe ich mich, Dave von Haus zu Haus
zu suchen.
Endlich finde ich ihn: in der Küche von Mutsch, die gar nicht zu Hause ist, denn ich hatte sie eben bei den Pierces getroffen.
Er sitzt auf einem roten Plastikstuhl und liest; als ich den Raum betrete, hebt er nicht einmal den Kopf.
»Was machst du hier?« frage ich. »Ich suche dich überall.« Er würdigt mich nicht eines Blickes. Sein schmales, dreieckiges
Gesicht ist über das Buch gebeugt, und seine Augen mit den langen schwarzen Wimpern sind gesenkt.
»Mir gefällt es hier«, sagt er frostig und tonlos.
»Mutsch ist doch gar nicht da.«
»Was macht das schon? Mutsch ist das egal. Mir auch.«
Ich mag diesen Ton nicht. Das ist nicht Dave, der so spricht, sondern ein anderer. Ich setze mich zu ihm.
»Sicher ist die Zeit lang geworden«, sage ich. »Eine der Milizionärinnen ist vom Pferd gefallen, sie hat sich den Ellbogen
ausgerenkt, und weil Dr. Rilke nicht da war, mußte ich sie behandeln.«
Er rührt sich nicht. Erst war er blind, jetzt ist er taub.
|83| »Hörst du mich, Dave?«
»Ich höre«, sagt er mit zur Schau gestelltem Trotz und blättert betont eifrig eine Seite seines Buches um.
Ich bin in dem Moment sicher, daß er keine einzige Zeile gelesen hat.
»Ich bin dabei, dir zu erzählen, daß ich an meiner Verspätung nicht schuld bin.«
»Ich habe verstanden«, sagt er im gleichen Tonfall.
Ich halte es für angebracht, meine Erklärung zu erklären.
»Es war keine Zeit zu verlieren. Die Verrenkung des Ellbogens erforderte ein sofortiges Eingreifen. Als wir von unserem Ausflug
zurückkehrten, sind Jespersen und ich gleich in die Sanitätsstelle gegangen.«
»Ich weiß«, sagt er. »Stien ist zum Swimmingpool gekommen, um es mir zu sagen.«
»Wenn du es schon weißt, dann hör auf zu schmollen.«
»Ich schmolle nicht«, sagt er mit eisiger Würde.
»Doch. Du siehst mich nicht einmal an. Glaubst du vielleicht, es macht mir Spaß, gegen eine Wand zu reden?«
»Ich
bin
eine Wand«, sagt er, ohne aufzublicken.
Er betont das »bin« herausfordernd und blättert geräuschvoll eine andere Seite um. Schweigen. Ich bin ziemlich ratlos. Dave
hatte mir gegenüber schon öfter kleine Anfälle von Feindseligkeit, doch nie in solchem Maße. Man könnte meinen, die nahende
Pubertät verstärkt alle seine Reaktionen. Hinzu kommt, daß ich Mühe habe, meine Kaltblütigkeit zu bewahren. Mir ist die Kehle
wie zugeschnürt, und meine Gedanken kreisen endlos um unlösbare, ständig wiederkehrende Erziehungsprobleme. Bin ich vielleicht
ein zu zärtlicher Vater? Müßte ich für Dave nicht eine autoritäre »Vaterfigur« sein, die ihm mehr Sicherheit gewährt? Ich
weiß es nicht. Ich mißtraue den Psychologen mit ihrem Ausschließlichkeitsanspruch.
Ich stehe auf und versuche, Haltung zu bewahren.
»Komm, Dave, wir gehen nach Hause.«
»Ich fühle mich hier sehr wohl!« sagt Dave, ohne sich zu rühren, die Augen noch immer auf das Buch geheftet.
Was soll ich machen? Soll ich laut werden? Ihm eine Ohrfeige geben? Ihn wie ein Paket auf der Schulter nach Hause tragen?
Ich suche Ausflüchte.
»Was liest du?«
|84| Er markiert die Seite und hält mir das zugeschlagene Buch hin, wobei er meinen Blick weiterhin meidet.
»Ach ja,
Huckleberry Finn.
Das ist ein guter
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