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Die geschützten Männer

Die geschützten Männer

Titel: Die geschützten Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Bekannter«, sage ich.
    Ich bewundere Dave wegen seiner Lektüre. Und gleichzeitig bin ich beunruhigt, denn schließlich ist dieses Buch die Geschichte
     eines ungeliebten Jungen, der von zu Hause wegläuft.
    Doch aus Blueville flieht man nicht.
    Ich gebe ihm das Buch zurück und frage: »Wie weit bist du?«
    Dave aber läßt sich nicht in die Falle einer literarischen Diskussion locken. »Ich habe erst angefangen«, antwortet er widerstrebend.
     Und sogleich vertieft er sich wieder in seine Scheinlektüre, bleich, abweisend, unnachgiebig.
    »Los, Dave, laß mich nicht warten.«
    Schweigen.
    »Was ist nun, Dave?« Ich habe die Stimme erhoben.
    Dave zuckt die Achseln und antwortet zurückhaltend: »Ich habe dir doch gesagt, ich fühle mich hier sehr wohl.«
    Schweigen.
    »Ich warte auf dich in der Cafeteria«, sage ich.
    Keine Antwort. Ich schließe die Tür hinter mir, doch bevor ich die Wohnung verlasse, gehe ich heimlich ins Bad und öffne das
     kleine Apothekenschränkchen. Nach Prüfung seines Inhalts – verzeih mir, Mutsch – nehme ich hastig ein Röhrchen Schlafmittel
     an mich.
    Ich gehe zu den Pierces, weil ich sicher bin, Mutsch dort zu finden. Pierce arbeitet mit mir im Labor. Er ist ein guter Wissenschaftler,
     nicht mehr, aber Mrs. Pierce ist ein ungewöhnlicher Mensch. Obwohl sie keine höhere Schulbildung hat, besitzt sie einen messerscharfen
     Verstand. Sie ist groß und mager, ihre spitze Nase und ihr spitzes Kinn haben die Tendenz, sich einander zu nähern, was ihr
     ein falkenähnliches Profil verleiht. Der Schein trügt: sie ist gütig, und ihre Beute sind nicht die Menschen, sondern die
     Ereignisse. Sie ist ständig auf der Lauer, stöbert und schnüffelt mit dem Schnabel in allen Ecken herum; an einem Tage sieht,
     hört und begreift sie zehnmal mehr als ein gewöhnlicher Mensch. Anfangs neigten wir dazu, die Schlußfolgerungen oder Eingebungen
     von Joan Pierce anzufechten, doch sie erwiesen sich Tag für Tag als so zutreffend, daß sich unser Skeptizismus legte.
    |85| Mrs. Pierce trägt überall eine große Ledertasche mit sich herum, die komischerweise kleine, von ihr selbst hergestellte Puppen
     enthält und unter diesen Puppen ein großes Fernglas. Oft schleicht sie während der schönsten Unterhaltung ans Fenster und
     beobachtet durch das Glas die Umgebung, um sich nicht die geringste Kleinigkeit entgehen zu lassen.
    Aber Mrs. Pierce braucht kein Fernglas, um in die Zukunft oder durch die Wände zu sehen. Sie besitzt eine prophetische Gabe
     neben ihrer Scharfsicht. Zu Beginn meines Aufenthalts in Blueville hat sie mich darauf vorbereitet, daß Anita mich immer seltener
     besuchen würde, und diese Voraussage hat sich leider als wahr erwiesen. Deshalb bin ich geneigt, ihr Glauben zu schenken,
     wenn sie Hilda Helsingforth, die hier niemand je zu Gesicht bekommen hat, als – ich zitiere – »sehr groß und schön« beschreibt.
     Ihre Züge sollen klassisch sein, sie gleiche einer Statue aus Stein. »Und dennoch ist daran etwas faul, ich weiß nicht, wieso.«
    Jespersen hat Mrs. Pierce den Spitznamen »die Hexe« gegeben, Mrs. Pierce nennt es bescheidener ihre Intuition. »Hexe rei « und »Intuition« sind aber nur Wörter. Ich würde eher sagen, daß es sich im Falle von Mrs. Pierce um so minutiöse Beobachtungen
     handelt und – davon abgeleitet – um so schnelle, scharfsinnige Überlegungen, daß Mrs. Pierce selbst sich lediglich der daraus
     gewonnenen Ergebnisse bewußt wird. Die enorme Arbeit – das Zusammentragen der Fakten, deren Analyse und Synthese – übersieht
     sie meist, weil das wahrscheinlich die einzige Wollust ihres Lebens ist.
    Als sie mir die Tür öffnet, schaut sie mir mit ihrem spitzen Vogelgesicht prüfend in die Augen und sagt lachend: »Armer Ralph,
     ich sehe, daß Sie sich noch Sorgen um Dave machen. Aber so schlimm ist das nicht. Sie wollen Mutsch sprechen?« fährt sie fort,
     umkrallt meine Arme – selbst ihre Finger sind sehr spitz – und zerrt mich in das Zimmer, wo ihr Sohn Johnny schläft und wo
     sie sich, tagsüber, wenn das Bett hochgeklappt ist, aufhält.
    Mutsch sitzt an einem Tisch und hat ein Schulbuch vor sich. Ihr rundes, faltiges Gesicht strahlt unter dem weißen Haar wohltuende
     Ausgeglichenheit aus. Mutsch ist in ihrer Haltung und in ihren Worten ebenso friedlich wie Stien aufbrausend. Ich setze mich
     zu ihr und berichte von meinem Gespräch mit |86| Dave. Mrs. Pierce interessiert dieser Bericht anscheinend nicht, denn bald steht

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