Die geschützten Männer
erhobenen Vorwurfs: daß ein Lächeln, ein Blick,
das Berühren einer Hand Verbrechen sein sollen. Ich werde mich niemals an diese fanatische Kontrasexualität gewöhnen.
Und ich bin vor allem erstaunt. Wie manipulierbar sind doch die Menschen! Wie schnell lassen sie sich kneten! Millionen Deutsche
glaubten, Hitler vertrauend, an die Bösartigkeit der Juden! Millionen Amerikaner billigten die barbarischen Bombenangriffe
auf Hanoi! Und heute die Frauen … Es ist nicht zu fassen! Kaum sechs Monate genügten, diesen intelligenten Laborantinnen die
gängigen Phrasen und Vorstellungen einzutrichtern.
Ich hatte es mir schwierig vorgestellt, mit Dr. Grabel Frieden zu schließen. Es war nicht an dem. Die Freude über seine Beförderung
ließ seinen Groll gegen mich im Nu dahinschmelzen. Gleichzeitig versöhnte ich mich mit allen Angehörigen seiner Kaste.
Die A.s sind durch eine tiefe Solidarität miteinander verbunden. Einen beleidigen heißt alle beleidigen. Die aus dem Labor
hatten sich von mir verachtet gefühlt. Sie kamen sich jetzt wie neugeboren vor und machten sich mit Feuereifer an ihre Arbeit.
Wenn ein A zufrieden ist, arbeitet er wie ein Lasttier. Arbeit ist sein einziger Lebensinhalt, sein einziges Vergnügen und
sein einziges Laster. Man gebe ihm einen Job, der ihm gefällt, Aufstiegsmöglichkeiten, einen guten Lohn, und er wird wie ein
richtiger Ochse unter seinem Joch davonziehen. Er weicht mit keinem Schritt von seiner Furche ab. Stunde um Stunde im Geschirr,
eine unvorstellbare Ausdauer und beispiellose Fügsamkeit.
Bei dieser Gelegenheit erweiterte ich die verwaltungstechnischen Befugnisse von Lia Burage, und zwar mit sehr guten Ergebnissen.
Ihr wissenschaftliches Rüstzeug ist ziemlich bescheiden, aber ihr Einfluß auf die drei Kasten ist überaus stark. Burage ist
unser Zement.
|137| Doch meine persönlichen Beziehungen zu Burage liegen völlig auf Eis. Da mir das Recht verweigert wird, sie anzusehen, ihr
zuzulächeln oder gar sie zu berühren, und wäre es nur mit den Fingerspitzen, kompensiere ich alle diese Verbote mit Träumen,
deren Inhalt man sich ausmalen kann. Wirklich, so weit bin ich gekommen! Wie ein Schuljunge! Nachts gesellt sich in meinen
verschwiegenen Gärten Lia Burage zu Pussy, Jackie und Mrs. Barrow. Aber tagsüber bin ich ihr gegenüber bei jeder Annäherung
von untadeliger Neutralität: meine Blicke erloschen, die Augen halb geschlossen, der Rücken gebeugt, die Stimme erstickt;
ich halte mich körperlich völlig zurück und lege in meine Gebärden jene undefinierbare bescheidene Sanftheit, die ich den
A.s nachahme. Es ist der Gipfel an Heuchelei, denn während ich mich möglichst perfekt in ein Neutrum zu verwandeln suche,
atme ich mit bebenden Nasenflügeln ihren Duft ein. Wenn sie weggeht, richte ich mich auf und bekomme Lust zu wiehern.
Burage stellt ihererseits meine Nerven auf eine harte Probe. Ich registriere das mit einem gewissen Entsetzen: ihre Selbstkontrolle
läßt nach, sie ist außerstande, sich zu beherrschen. An einem einzigen Tag ändert sich ihr Verhalten mir gegenüber drei- bis
viermal. In der Öffentlichkeit ist sie selbstverständlich die Kälte in Person; ich spreche von den persönlichen Begegnungen
in meinem Arbeitszimmer. Heute hatte ich zum Beispiel mit vier verschiedenen Burages zu tun. Früh eine mürrische, einsilbige
Burage (abgespannt, niedergeschlagen, dunkle Ränder um die blauen Augen). Um elf eine mit Tagesproblemen ausgefüllte, geschäftige,
aktive und mir gegenüber offene, sogar kameradschaftliche Burage. Nachmittags um vier ein Eisblock. Und zum Schluß ein Disput
in meinem Arbeitszimmer. Meine Abhöranlage endet vermutlich in ihrem Büro, sonst wäre sie vorsichtiger.
Es beginnt mit einem Streit über Verwaltungsfragen und endet mit einem Ehekrach. Ich habe ein neues Verbrechen begangen! Um
drei habe ich Crawford im Korridor getroffen und ihr zugelächelt. Sinnlos, es zu leugnen: sie hat mich gesehen! Meine Antwort:
Warum soll ich Crawford nicht zulächeln, wenn ich es auch bei Dr. Grabel mache? Sie sind die Sexistin, Burage! Sie denken
immer gleich das Schlimmste.
An diesem Punkt erlaube ich mir einige Sticheleien, bei betont |138| korrekter Haltung. Übertriebenes Lob für die Arbeit Crawfords, gekoppelt mit besonders nachdrücklichem Lob ihrer Ausgeglichenheit.
Schlußfolgerung: Crawford hat einen großen Vorzug – sie bringt mich nicht in Wallung.
Ihre Aggressivität
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