Die geschützten Männer
Ich bin ein Mann! Ich gebe keinen Zentiliter meines Samens her, damit zwanzig Jahre nach meinem Tod
irgendeine Idiotin damit befruchtet wird!«
»Zwanzig Jahre nach deinem Tod?« fragt Jess erstaunt. Und da Stien ihn nicht beachtet, wendet er sich an mich.
»Vielleicht nicht gerade zwanzig Jahre nach seinem Tod, aber auf jeden Fall zehn oder fünfzehn Jahre nach der Spermaentnahme«,
sage ich. »Die Konservierung ist völlig unproblematisch.«
»Also gab es so was schon?« fragt Jess.
Ich blicke Jess an. Er sieht gut aus, ist aber ein ziemlich auf sein Fach beschränkter Spezialist.
»Heute scheint es bereits eine Bundesspermabank zu geben«, sage ich. »Vorher waren es Privatbanken. Sie konservierten dir
das Sperma bei Temperaturen für flüssigen Stickstoff gegen eine Gebühr von zwanzig Dollar jährlich.«
»Und wozu?« Jespersen zieht die Stirn in Falten.
»Na stell dir vor, du hättest dir eine Vasektomie machen lassen und hättest dir trotz allem die Fähigkeit der Fortpflanzung
bewahren wollen.«
»Aber warum dann überhaupt eine Vasektomie?« fragt Jess lachend.
»Vielleicht aus moralischen Gründen. Manche Männer glaubten, daß
sie
sich sterilisieren lassen müßten, nicht die Frauen, zu denen sie Beziehungen unterhielten. Und sie ließen ihr Sperma für den
Fall konservieren, daß ihre Frauen eine Befruchtung wünschten.«
»Idioten!« schreit Stien. »Hoffnungslose Idioten!« Er steht mit knirschenden Zähnen auf, aber da er nicht weiß, wie er seinem
Zorn Luft machen soll, setzt er sich wieder hin und murrt: »Wie einfallsreich! Das Sperma einlagern und den Schwanz sterilisieren
lassen!«
Jess sieht ihn an, aber weil Stien nicht ansprechbar ist, wendet er sich wieder an mich.
»Ich finde das ziemlich großzügig von seiten dieser Männer«, |143| sagt er. »Warum sollen denn die Frauen unbedingt die Pille nehmen? Warum kann nicht auch der Mann die Beziehung steril machen?«
»Das ist doch gar nicht miteinander zu vergleichen«, sage ich. »Eine Frau kann jederzeit aufhören, die Pille zu nehmen. Die
Vasektomie ist nur in 25 Prozent der Fälle rückgängig zu machen. Das ist eine Verstümmelung, die sogar gefährlich sein kann.«
»Irrsinn, Irrsinn!« schreit Stien. »Laßt mich mit diesen amerikanischen Blödheiten in Ruhe! Hier geht es doch überhaupt nicht
mehr um Vasektomie! Für nichts und wieder nichts werden Menschen kastriert. (Aus dieser Bemerkung schließe ich, daß Joan Pierce
ihm den Artikel von Deborah Grimm zu lesen gegeben hat und daß er sich daran erinnert, was sie über die intakten Greise sagt.)
Und die Frage für uns ist: sollen wir es hinnehmen, ja oder nein, daß uns die Rolle von Zuchtpferden aufgezwungen wird?«
Schweigen.
»Bevor ich antworte, bitte ich dich um einen Augenblick Zeit zum Nachdenken, schon damit du mir nicht vorwerfen kannst, ich
machte mir die Sache zu einfach«, sage ich.
Stien reagiert darauf völlig unerwartet. Er lächelt zufrieden, als wüßte er meine schlagfertige Antwort zu schätzen.
Ich erhebe mich und gehe zum Fenster. Ich horche. Ich schiebe die Übergardinen etwas zur Seite. Es ist Nacht. Bis auf die
schwach erleuchtete Baracke der alleinstehenden Frauen, zwanzig Meter vor mir, ist nichts zu sehen. Da drüben schläft Burage.
Ich weiß sogar, welches ihr Fenster ist.
In Wirklichkeit denke ich nach. Ich habe mich bereits entschieden. Ich brauche nur eine Atempause, ich möchte einen Augenblick
allein sein. Von uns dreien ist Stien weitaus am besten informiert, er hat die reichsten Erfahrungen und die größte Lebensklugheit.
Doch ich möchte mich von ihm nicht drängen lassen. Er tut es zwar nicht bewußt, aber es läuft darauf hinaus, daß der Dialog
mit ihm meistens zum Monolog und das Selbstgespräch zur Anklagerede wird. Stien hat die Manie der Anklage, der entrüsteten
Anschuldigungen, der leidenschaftlichen Verachtung. Eigentlich richtet sich das gar nicht gegen uns, aber weil wir für ihn
greifbar sind, müssen wir schließlich herhalten.
|144| Nach dieser Bedenkzeit setze ich mich wieder hin und sage: »Die Frage, die ich mir vor allem stelle, lautet: läßt man uns
wirklich eine Wahl? Haben wir überhaupt die Freiheit, abzulehnen? Dem Anschein nach, ja, denn Mulberry schreibt in seinem
Brief,
wenn Sie einverstanden sind.
Aber im gleichen Atemzug legt er den Zeitpunkt fest, an dem die Entnahmekommission erscheinen wird, so als ob er unserer Zusage
sicher wäre.«
»Stimmt genau«,
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