Die geschützten Männer
sagt Stien.
»Ich danke dir, daß du mir recht gibst, Stien«, sage ich ein wenig sarkastisch. »Ich sehe nur einen Weg, der mir eine Entscheidung
ermöglicht: ablehnen. Und weil diese Ablehnung als unpatriotisch ausgelegt werden könnte, werde ich dafür moralische Gründe
anführen. Ich werde sagen, daß mir die Manipulation an mir selbst widerstrebt und daß ich anderseits die Manipulation durch
medizinisches Personal ablehne. Ich betrachte ihre Ausführung, sogar schon die Absicht, als homosexuell.«
»Nicht schlecht«, sagt Stien. Sein Gesicht, das wie bei einem alten Elefanten zerfurcht ist, bekommt noch mehr Falten, er
wiegt seinen Kopf hin und her und fährt mit verschmitztem Lächeln fort: »Nicht schlecht, aber ich habe etwas Besseres. Ich
werde sagen, daß ich dem jüdischen Gesetz treu bleiben will und die betreffende Manipulation mit der Sünde Onans gleichsetze,
erstes Buch Mose, Kapitel 38.«
Ich sehe ihn an und schüttle den Kopf.
»So gut ist das auch wieder nicht. Man wird dir entgegenhalten, daß dein Samen nicht auf die Erde geworfen und verdorben,
sondern im Gegenteil für künftige Befruchtungen sorgfältig aufbewahrt werden soll.«
»Man wird mir überhaupt nichts entgegenhalten, Ralph. Die Religion ist eine Festung, und man wird es nicht wagen, sie anzugreifen.«
Schweigen. Wir sehen Jess an, und Jess errötet. Er sagt, nicht ohne Selbstüberwindung: »Ich habe die Absicht, ja zu sagen.«
Zu meinem großen Erstaunen brüllt Stien nicht los und fordert nicht einmal eine Erklärung dafür. Ich übrigens auch nicht,
nur meine Augen erwarten sie. Jess weicht meinem Blick nicht aus.
»Es steht mir nicht an, euch zu verurteilen oder zu tadeln, |145| doch halte ich eine Ablehnung für unpatriotisch, so wie Ralph es sagte.«
»Ich habe mich mit dieser Meinung nicht identifiziert«, entgegne ich lebhaft. »Ich habe sie den Behörden unterstellt.«
»Mir ist klar, daß du mit ihnen nicht einverstanden bist«, sagt Jess. »Ich aber bin es.«
Ich schweige, und auch Stien schweigt. Ich habe keine Lust, Jess darzulegen, daß er im Prinzip recht hat, nicht aber unter
den gegebenen Umständen. Denn der Administration, die uns regiert, kann man nicht vertrauen, wir schon gar nicht! Tyrannei
und Willkür haben die Oberhand, und nachdem man uns als Samenlieferanten benutzt hat, kann man morgen genausogut beschließen,
A.s aus uns zu machen. Ich sage nichts von alledem. Ich weiß nicht, ob Joan Pierce Jess den Artikel von Deborah Grimm geliehen
hat. Ich glaube es nicht. Ebenso wie ich mißtraut sie sicher seiner Naivität, vielleicht auch seinem Konformismus.
»Es ist Zeit, die Horcher zu belohnen«, sagt Stien.
Mit einer gewissen Rücksichtnahme auf Jess, der noch wenige Minuten zuvor völlig Luft für ihn zu sein schien, macht er damit
dem Gespräch ein Ende. »Die Horcher belohnen« – eine Redewendung, die wir Stien verdanken – soll heißen, daß ich die Abhöranlage
nach einem vertraulichen Gespräch wieder einschalte und wir eine halbe Stunde lang belanglose Gespräche führen und dabei Whisky
trinken, wenigstens meine beiden Kollegen. Es ist eine Vorkehrung für den Fall, daß jemand den Besuch von Jess und Stien bemerkt
hat und sich wundert, daß er keine akustischen Spuren hinterläßt. Zwar besteht in diesem Fall immer noch eine zeitliche Differenz,
die die Horcher feststellen könnten. Aber wie sollte man ohne Risiko leben?
Nachdem Jess und Stien gegangen sind, ziehe ich meinen Pyjama an, gehe im Zimmer hin und her, bleibe schließlich vor dem Fenster
stehen und schiebe den Vorhang ein Stück zur Seite, wie ich es an diesem Abend schon einmal gemacht habe. In einem ähnlichen
Zimmer mir gegenüber schläft Burage, oder sie schläft auch nicht. Zwischen uns liegen knapp zwanzig Meter und ein unüberwindliches
Tabu: eine Vereinigung käme, für mich wenigstens, einem Selbstmord gleich.
Und dennoch wird am 3. Juni, nachdem meine Weigerung |146| ganz sicher nicht akzeptiert worden ist, eine Kommission kommen, mir den Samen abzunehmen. In einem Jahr, in zehn Jahren wird
dieser Samen in Ohio oder Alabama durch Computer ausgewählte Frauen befruchten, deren Eigenschaften sich mit meinen ergänzen.
Durch diese Befruchtung aus der Entfernung – der doppelten Entfernung des Raumes und der Zeit – werden Kinder geboren. Diese
Kinder werden in staatlichen Krippen aufwachsen, ohne ihre Väter und Mütter zu kennen, die für andere Aufgaben verfügbar
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