Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Titel: Die geschwätzigen Kleinode (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Diderot
Vom Netzwerk:
wird mir erlauben, die neugierigen Leser deshalb an das Archiv von Congo zu verweisen. Der Sultan ließ sogleich Abschriften dieser Aussage an alle Dolmetscher und Lehrer ausländischer alter und neuer Sprachen verteilen. Einer sagte, es wären Auftritte aus alten griechischen Trauerspielen, die ihm ungemein rührend schienen. Ein anderer brachte es mit vielem Kopfzerbrechen so weit, ein wichtiges Bruchstück alter ägyptischer Glaubenslehren darin zu entdecken. Dieser behauptete, es sei der Eingang einer punischen Leichenrede auf Hannibal. Jener versicherte, es sei ein Gebet an Confuzius’ altchinesischer Schrift.
    Über diese gelehrten Mutmaßungen verlor der Sultan die Geduld, erinnerte sich an Gullivers Reisen und zweifelte nicht, daß ein Mann, der so lange wie dieser Engländer auf einer Insel lebte, wo die Pferde eine Staatsverwaltung haben, Gesetze, Könige, Götter, Priester, Gottesdienst, Tempel und Altäre, der von ihren Sitten und Gebräuchen so vollkommen unterrichtet scheine, auch ihre Sprache vollkommen verstehen müßte. In der Tat, Gulliver las und erklärte die Aussage der Stute sehr geläufig, wiewohl sie von Schreibfehlern wimmelte. Seine Übersetzung ist die einzig gute, die man in Congo findet. Mangogul erfuhr zu seiner Befriedigung und zur Ehre seines Systems, daß es ein kurzer historischer Abriß der Liebesgeschichte eines dreischweifigen Paschas mit einer kleinen Stute war, die schon eine unendliche Menge Esel vor ihm besprungen hatten. Die Nachricht klingt sonderbar, aber daß sie wahr sei, wußte der Sultan, der Hof, ganz Banza und das ganze Reich ohnedem.
    »Ach!« sagte Mangogul, gähnte und rieb sich die Augen, »mir tut der Kopf weh! Daß sich keiner wieder unterstehe, mir etwas vorzuphilosophieren! Solche Gespräche sind ungesund. Gestern leg ich mich mit solchen krausen Gedanken nieder, und anstatt zu schlafen wie ein Sultan, hat mein Gehirn mehr gearbeitet, als die meiner Staatsminister in einem Jahre. Sie lachen, aber ich will Ihnen beweisen, daß ich nicht übertreibe! Ich will mich für die üble Nacht rächen, die Ihre Vernünfteleien mir zugezogen haben. Sie sollen meinen ganzen Traum zu hören bekommen. So wie ich anfing einzuschlafen, erwachte meine Einbildungskraft. Ich sah ein seltsames Tier mir zur Seite sich tummeln. Es hatte den Kopf des Adlers, die Füße des Greifen, den Leib des Pferdes und den Schweif des Löwen. Ich ergriff es trotz seiner Sprünge, hielt mich an seine Mähne und schwang mich leicht auf seinen Rücken. Sogleich breitete es lange Fittige aus, die aus seinen Seiten drangen, und ich fühlte mich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Luft getragen.
    Wir waren schon lange unterwegs, als ich mitten im freien luftigen Raum ein Gebäude sah, als schwebt’ es durch Zauberkraft. Es war sehr groß. An seiner Grundlage konnte man nichts aussetzen, denn es stand auf nichts. Seine Säulen, die nur einen halben Fuß dick waren, erhoben sich so hoch, daß man ihr Ende nicht absehen konnte, und unterstützten Gewölbe, die man nicht mehr erkannt haben würde, wenn nicht durch ihre gleichmäßigen Öffnungen Licht gefallen wäre.
    Am Eingange dieses Gebäudes hielt mein Träger still. Anfangs schwankte ich, abzusteigen; denn wirklich schien es mir minder gefährlich, auf diesem Pferdegreif herumzufliegen, als in jenen Hallen zu lustwandeln. Indessen die Volksmenge, die ich dort erblickte, und das hohe Bewußtsein von Sicherheit, das ich auf ihren Gesichtern las, ermutigten mich. Ich steige ab, gehe näher, mische mich in das Gedränge und betrachte die, woraus es bestand.
    Es waren aufgedunsene Greise ohne festes Fleisch, ohne Kraft und beinahe alle mißgestaltet. Einer hatte einen zu kleinen Kopf, ein anderer zu kurze Arme, dem fehlte es an Rumpf, jenem an Beinen. Die meisten hatten keine Füße und gingen auf Krücken. Ein Hauch warf sie um, und dann blieben sie auf der Erde liegen, bis es einem Neuangekommenen gefiel, sie aufzuheben. Trotz aller dieser Fehler gefielen sie beim ersten Anblick. Sie hatten in ihren Gesichtszügen etwas Anziehendes und Kühnes. Sie waren fast nackend, denn ihre ganze Kleidung bestand aus einem kleinen Tuchlappen, der nicht ein Hundertteilchen ihres Körpers bedeckte.
    Ich dränge mich weiter durch und gelange endlich zu den Füßen einer Tribüne, der ein großes Spinnengewebe zum Baldachin diente. Übrigens war sie nicht minder kühn aufgeführt als das Gebäude, zu dem sie gehörte. Sie schien mir auf einer Nadelspitze zu

Weitere Kostenlose Bücher