Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)
Reichhaltigkeit meines Prinzips? Spricht die Menge der Erscheinungen, die es erklärt, nicht für seine Gewißheit?«
»Madame,« antwortete Selim, »wenn Sie die Anwendung auf nur einige machten, so gäbe das uns vielleicht einen Grad von Überzeugung, den wir noch nicht besitzen.«
»Sehr gern,« versetzte Mirzoza, die ihre Überlegenheit zu fühlen anfing. »Sie sollen zufrieden sein. Folgen Sie nur meiner Gedankenreihe. Ich versteife mich nicht auf große Beweisführung. Ich spreche mit dem Herzen. Das ist für uns Frauen Philosophie, und die verstehn Sie beinahe eben so gut wie wir. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Seele bis zum achten oder zehnten Jahre in Füßen und Beinen bleibt. Dann, oder vielleicht etwas später, verläßt sie dies Quartier, entweder aus eignem Antriebe, oder aus Not. Aus Not, wenn ein Lehrmeister gewisse Werkzeuge gebraucht, um sie aus ihrem Heimatlande herauszujagen und in das Gehirn zu treiben, wo sie sich gewöhnlich in Gedächtnis verwandelt und beinahe niemals in Urteilskraft. Das ist der Fall mit Knaben, die zur Schule gehn. Gleicherweise, wenn eine dumme Gouvernante sich abmüht, ein junges Mädchen zu bilden, ihr den Geist mit Kenntnissen vollpfropft und Herz und Sitten vernachlässigt. Dann steigt die Seele schnell zu Kopf, verweilt auf der Zunge oder tritt in die Augen. So wird die Schülerin eine langweilige Schwätzerin oder ein gefallsüchtiges Frauenzimmer. So auch wohnt der Wollüstigen Seele in ihrem Kleinod und weicht nimmer von dannen.
Die Seele der galanten Frau wohnt bald in ihrem Kleinod, bald in ihren Augen.
Die Seele der Zärtlichen ist gewöhnlich in ihrem Herzen, doch zuweilen auch im Kleinod.
Die Seele der Tugendhaften ist bald im Kopf, bald im Herzen und niemals anderswo.
Wohnt die Seele im Herzen, so formt sie die empfindsamen, mitleidigen, wahrheitsliebenden, edelmütigen Charaktere. Verläßt sie das Herz, um nie zurückzukehren, und verbannt sie sich in den Kopf, so wird der Mensch hart, undankbar, betrügerisch und grausam.
Zahlreich ist die Menschenklasse, deren Seele den Kopf nur als Sommerwohnung besucht und nicht lange darin verweilt. Dahin gehören die Stutzer, die Gefallsüchtigen, die Tonkünstler, die Dichter, die Romanschreiber, die Höflinge, und was man hübsche Frauen nennt. Hören Sie diese Leute reden, und Sie werden sogleich erkennen, daß ihre Seele umherirrt, daß sie von jedem verschiedenen Himmelsstriche, den sie durchwanderte, etwas angenommen hat.«
»Wenn dem so ist,« sprach Selim, »so hat die Natur viel Überflüssiges getan. Und doch behaupten unsre Weisen steif und fest, sie habe nichts vergebens hervorgebracht«.
»Lassen wir Ihre Weisen und deren hohe Worte beiseite,« antwortete Mirzoza. »Und was die Natur anbelangt, so wollen wir sie bloß mit den Augen der Erfahrung betrachten, dann werden wir lernen, daß sie die Seele in den Leib des Menschen versetzt, wie in einen geräumigen Palast, dessen schönstes Gemach nicht immer sie bewohnt. Kopf und Herz sind ihr vorzüglich bestimmt als Mittelpunkt der Tugenden und Aufenthalt der Wahrheit. Aber sehr oft bleibt sie unterwegs und bevorzugt einen Keller, einen zweideutigen Ort, eine armselige Herberge, wo sie in immer währenden Rausch einschlummert! Ach! könnte ich die Welt nur vierundzwanzig Stunden lang nach meiner Laune einrichten, so wollt’ ich Ihnen ein seltsames Schauspiel geben. Ich nähme jeder Seele auf einmal alle Teile ihrer Wohnung, die sie nicht braucht, und dann würden Sie den Charakter jeder Person aus dem übrigbleibenden Teile erkennen. Dann beständen die Tänzer nur aus zwei Füßen, bestenfalls aus zwei Beinen, die Sänger aus einer Kehle, die meisten Weiber aus einem Kleinod, die Helden und Fechter aus einer bewaffneten Faust, gewisse Gelehrte aus einem hirnlosen Schädel. Eine Spielerin behielte nichts als zwei Hände, um ihre Karten zu mischen, ein Vielfraß aus zwei beständig kauenden Kinnbacken, eine Gefallsüchtige aus zwei Augen, ein Wüstling aus dem bloßen Werkzeug seiner Begierden, Unwissende und Faulenzer aus gar nichts mehr.«
»Wenn Sie den Weibern freie Hand ließen,« sagte der Sultan, »so würde man den Männern, denen nichts als das Werkzeug ihrer Begierden bliebe, schön nachlaufen. Das gäbe eine feine Jagd, und stellte man diesen Vögeln überall ebensosehr nach als in Congo, so stürbe die Gattung bald aus.«
»Was bliebe aber von den zarten gefühlvollen Seelen, den beständigen treuen Liebenden übrig?« fragte
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