Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)
ruhen und sich im Gleichgewicht darauf zu erhalten. Hundertmal zitterte ich für den, der darauf stand. Es war dies ein Greis mit langem Bart, ebenso hager und viel nackter noch als seine Schüler. Er tauchte einen Strohhalm in einen Becher voll feiner flüssiger Materie, setzte ihn an den Mund und blies Blasen auf eine Menge Zuschauer hinab, die ihn umgaben und sich abmühten, diese Blasen hoch in die Wolken zu treiben.
›Wo bin ich?‹ fragte ich mich, durch solche Kindereien verwirrt. ›Was will dieser Bläser mit seinen Blasen? Was all diese verlebten Knaben, die sie in die Höh treiben? Wer wird mir dies alles erklären?‹ Auch die kleinen Tuchfetzen hatten mich in Erstaunen versetzt. Je größer sie waren, hatt’ ich beobachtet, desto weniger bekümmerten sich die, welche sie trugen, um die Blasen. Diese sonderbare Wahrnehmung gab mir den Mut, denjenigen anzureden, der mir am wenigsten unbekleidet scheinen würde.
Einen erblickt’ ich, dessen Schultern durch so künstlich zusammengenähte Lappen halbbedeckt waren, daß man es gar nicht sah. Er ging im Gedränge hin und her und bekümmerte sich wenig um das, was geschah. Sein Ansehn war freundlich, sein Mund lachend, sein Gang edel, sein Blick sanft. Ich trat gerade auf ihn zu. ›Wer sind Sie? Wo bin ich, und wer sind alle diese Leute?‹ fragt’ ich ihn ohne alle Umschweife … ›Ich bin Plato,‹ antwortete er. ›Sie sind im Reich der Hypothesen. Jene Leute sind Systematiker.‹ ›Aber durch welchen Zufall‹, fragt’ ich, ›befindet sich der göttliche Plato hier? Was sucht er unter den Unsinnigen?‹ ›Rekruten,‹ antwortete er mir. ›Weit von dieser Halle hab’ ich ein kleines Heiligtum, wohin ich diejenigen führe, die von den Systemen zurückkommen.‹ – ›Und womit beschäftigen Sie sie?‹ –›Den Menschen kennenzulernen, Tugenden zu üben und den Grazien zu opfern.‹ – ›Das ist schön. Aber was bedeuten alle diese kleinen Tuchlappen, wodurch Sie mehr Bettlern als Philosophen ähnlich sehen?‹ – ›Was fragen Sie mich?‹ sprach er seufzend. ›Welche Erinnerung wecken Sie in mir? Dies war vormals der Tempel der Philosophie. Leider ist jetzt die Stätte sehr verändert. Hier stand einst der Lehrstuhl des Sokrates.‹ – ›Was sagen Sie?‹ unterbrach ich ihn. ›Hatte auch Sokrates einen Strohhalm? und blies er gleichfalls Seifenblasen?‹ – ›Nein, nein,‹ antwortete Plato. ›Nicht auf die Art verdiente er sich von den Göttern den Namen des weisesten Menschen. Solang’ er lebte, beschäftigte er sich damit, Köpfe zu machen und Herzen zu bilden. Mit seinem Tode ging sein Geheimnis verloren. Sokrates starb, und das schöne Zeitalter der Philosophie war zu Ende. Diese Stoffteilchen, die zu tragen selbst die Systematiker sich zur Ehre anrechnen, sind Fetzen seines Gewandes. Kaum hatte er die Augen geschlossen, als die, welche auf den Titel Philosophen Anspruch machten, sich über seinen Mantel herwarfen und ihn zerrissen.‹ ›Ich verstehe,‹ sagt’ ich, ›und diese Lappen dienten ihnen und ihrer Nachkommenschaft zum Abzeichen.‹ ›Wer wird diese Stücke zusammenlesen,‹ fuhr Plato fort, ›und Sokrates’ Mantel uns wiedergeben?‹
So rief er feierlich, als ich in der Ferne ein Kind sah, das mit langsamen, aber sichern Schritten auf uns zuging. Sein Kopf war klein, sein Leib dünn, die Arme schmächtig, die Beine kurz. Aber alle seine Gliedmaßen wurden stärker und länger, wie es näher trat. In diesem Fortschritt seines allmählichen Wachstums erschien es mir unter hunderterlei Gestalten. Ich sah es ein langes Sehrohr gegen den Himmel richten, mit einem Pendel den Fall der Körper bestimmen, mit einer quecksilbergefüllten Röhre die Schwere der Luft abmessen und durch ein Prisma in seiner Hand die Lichtstrahlen zerlegen. Dann ward es ein ungeheurer Koloß; sein Haupt reichte zum Himmel, seine Füße verloren sich in den Abgrund, seine Arme umfaßten beide Pole. In der Rechten schwang es eine Fackel, deren Glanz sich weit in die Luft verbreitete, tief unten die Gewässer erhellte und in die Eingeweide der Erde drang. ›Wer ist diese Riesengestalt,‹ fragt’ ich den Plato, ›die auf uns zukommt?‹ ›Erkennen Sie die Erfahrung,‹ erwiderte er. ›Sie ist es selbst.‹ Kaum hatte er diese kurze Antwort gegeben, als ich die Erfahrung näher treten sah. Und die Säulen der Hypothesenhalle wankten, ihr Gewölbe senkte sich, ihr Fußboden öffnete sich unter unseren Füßen. ›Fliehn wir,‹ sagte Plato
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