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Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Die geschwätzigen Kleinode (German Edition)

Titel: Die geschwätzigen Kleinode (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Denis Diderot
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Der Würfel ist gefallen: ich werde Fulvia hören. Das Schlimmste, was mir begegnen kann, ist der Verlust einer Ungetreuen.« »Über deren Verlust Sie sich zu Tode grämen werden,« setzte die Favorite hinzu. »Was für Geschichten!« sagte Mangogul. »Halten Sie Selim für so schwachsinnig? Er hat die zärtliche Cydalise verloren und ist frisch und gesund: warum sollte er sterben, wenn er Fulvias Untreue erkennt? Wenn ihm nur ein solcher Tod droht, so verbürg’ ich ihm ewiges Leben. Selim, auf morgen bei Fulvia, verstehen Sie mich? Ich werde Ihnen die Stunde ansagen lassen.« Selim verbeugte sich, Mangogul ging hinaus, die Favorite fuhr fort, dem alten Hofmann vorzustellen, welch ein gefährliches Spiel er spiele. Selim dankte ihr für diesen Beweis ihres Wohlwollens, und alle legten sich schlafen in Erwartung großer Dinge.
    Der gelehrte Afrikaner, der die Charakterschilderung Selims irgendwo versprochen hatte, läßt sich einfallen, sie hier zu entwerfen. Ich ehre die Werke des Altertums zu sehr, um zu behaupten, daß dieser Entwurf anderswo schicklicher hätte angebracht werden können. »Es gibt,« sagt er, »gewisse Leute, denen ihr Verdienst jede Tür eröffnet; die durch die Anmut ihrer Gestalt und durch Lebhaftigkeit ihres Geistes in ihrer Jugend die Lieblinge vieler Frauen sind; und deren Alter geehrt wird, weil sie durch die Kunst, ihre Pflicht mit ihrem Vergnügen zu vereinbaren, ihr mittleres Alter durch dem Vaterlande geleistete Dienste verschönten. Mit einem Worte: es gibt Leute, die zu jeder Zeit die Freude der Gesellschaft sind, und Selim gehörte zu ihnen. Er war freilich schon sechzig Jahre alt und hatte die Bahn des Vergnügens früh betreten, aber eine robuste Gesundheit und Schonung bewahrten ihn vor Hinfälligkeit. Edles Ansehen, ungezwungener Anstand, verführerische Sprache, große, auf lange Erfahrung gegründete Weltkenntnis und die Gewohnheit, mit Frauenzimmern umzugehen, ließen ihn bei Hofe für einen Mann gelten, dem jeder gern geglichen hätte, dem man aber nicht erfolgreich nachahmen könnte, weil man auch die Talente und den Geist von der Natur erhalten haben müsse, wodurch er sich auszeichnete.«
    »Jetzt frag’ ich,« fährt der gelehrte Afrikaner fort, »ob dieser Mann recht hatte, sich über seine Geliebte zu beunruhigen und seine Nacht zu verbringen, als ob er seinen Verstand verloren hätte? Denn es ist Tatsache, daß er, je mehr er Fulvia liebte, desto mehr fürchtete, sie untreu zu finden. ›In welches Labyrinth hab’ ich mich führen lassen?‹ sprach er zu sich selbst, ›und warum?‹ Was hilft es mir, daß die Favorite ein Schloß gewinnt? und in welche Lage stürze ich mich, wenn sie es verliert? Aber warum sollte sie es verlieren? Bin ich nicht Fulvias Zärtlichkeit sicher? Ach! ich besitze sie ganz, und spricht ihr Kleinod, so ist es nur von mir! Aber wenn es zum Verräter würde? Nein, nein, das hätt’ ich schon früher geahnt; ich würde Unregelmäßigkeiten bemerkt haben; man hätte sich in fünf Jahren doch einmal vergessen. Die Prüfung bleibt freilich immer gefährlich; doch ist es nicht mehr Zeit, zurückzutreten. Ich habe den Becher an meine Lippen gesetzt, ich muß ihn leeren, sollte ich auch dabei den ganzen Trank verschütten. Vielleicht ist mir auch das Orakel günstig. Aber, ach, was darf ich erwarten? Warum sollten andere eine Tugend vergeblich angegriffen haben, die ich besiegte? Vergib, teure Fulvia, ich beleidige dich durch diesen Argwohn und ich vergesse, was es mich kostete, dich zu überwinden. Mir leuchtet ein Strahl von Hoffnung, ich schmeichle mir, das Kleinod wird hartnäckig stumm bleiben!«
    Selim war in dieser Gemütsbewegung, als man ihm von seiten des Großherrn ein Briefchen überreichte, worauf nur diese Worte standen: »Seien Sie heute abend auf den Schlag halb zwölf am verabredeten Orte!« Selim nahm die Feder und schrieb zitternd: »Fürst, ich werde gehorchen!«
    Selim brachte den übrigen Tag wie die vergangene Nacht schwankend zwischen Furcht und Hoffnung zu. Nichts ist so gewiß, als daß die Liebhaber Ahnungen haben. Ist ihre Geliebte ungetreu, so ergreift sie ein gewisser Schauder, ungefähr wie die Tiere, wenn schlechtes Wetter eintritt. Der argwöhnische Liebhaber gleicht einem Kater, dem bei Nebelluft die Ohren jucken. Die Tiere und die Liebhaber haben auch das miteinander gemein, daß sich diese Ahnung bei Haustieren verliert und beim Liebhaber abstumpft, wenn er Ehemann wird.
    Die Stunden schienen Selim sehr

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