Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
unverkennbaren dreißig Jahre schaute die Frau auf dem Bildkindlich aus, dabei gescheit und eigenwillig. Eigennützig, dachte Gustav Oppermann, unter dem Einfluß des andern Bildes.
Es waren jetzt zehn Jahre, daß Gustav Sybil kennengelernt hatte. Sie war damals Tänzerin gewesen, mit vielen Einfällen, wenig Rhythmus, nicht ohne Erfolg. Sie hatte Geld, sie lebte angenehm, von einer lebensklugen, duldsamen Mutter verhätschelt. Der süddeutsche, naive Witz des zierlichen Mädchens, der so sonderbar kontrapunktiert war von ihrer dünnen, altklugen Gescheitheit, hatte Gustav angezogen. Sie fühlte sich geschmeichelt durch die offensichtliche Neigung des gefestigten, angesehenen Herrn. Rasch entstand zwischen dem Mädchen und dem zwanzig Jahre älteren Mann eine große, ungewöhnliche Vertrautheit. Er war ihr Liebhaber und Onkel zugleich. Er hatte Sinn für jede ihrer Launen, ihm konnte sie sich rückhaltlos eröffnen, seine Ratschläge waren überlegt, verständig. Er hatte ihr auf behutsame Art beigebracht, daß ihr Getanze bei ihrem Mangel an Musik nie zu wirklichen, inneren Erfolgen führen könne. Sie begriff das, sattelte rasch entschlossen um, bildete sich unter seiner Leitung zur Schriftstellerin aus. Sie wußte sich persönlich, farbig auszudrücken, ihre Stimmungsbilder und kleinen Geschichten wurden von den Zeitungen gern gedruckt. Als in den Wandlungen der deutschen Wirtschaft ihr Vermögen wegschmolz, konnte sie von dem Ertrag ihrer Schriftstellerei ihren Lebensunterhalt zum guten Teil bestreiten. Gustav, selber ohne schöpferisches Talent, aber ein guter Kritiker, unterstützte sie mit beflissenem, verständigem Rat; auch verhalfen ihr seine zahlreichen Beziehungen zu einem guten Markt. Sie hatten oft daran gedacht, zu heiraten, sie wohl heftiger als er. Aber sie begriff, daß er es vorzog, ihre Verbindung nicht durch eine Legalisierung zu versteifen. Alles in allem waren es zehn gute Jahre gewesen, für sie und für ihn.
Gute Jahre? Sagen wir, angenehme Jahre, dachte Gustav Oppermann, das gescheite, liebenswerte, eigenwillige Kind auf dem Bild beschauend.
Und plötzlich war der Brief wieder da, der ungeöffnete Brief auf dem großen Schreibtisch, Annas Brief. Mit Anna wären es keine zehn angenehmen Jahre geworden. Es wären Jahre voller Streit und Aufregung geworden. Aber andernteils, wenn er mit Anna zusammen gewesen wäre, hätte er sich heute morgen schwerlich zu fragen brauchen, was er, falls sie seine Lessing-Biographie ablehnen, mit seinem Winter anfangen soll. Er hätte dann um Was und Wohin genau gewußt, er hätte dann wahrscheinlich so viele Aufgaben gehabt, daß er gestöhnt hätte, man möge ihn nicht mit dem Lessing in Versuchung führen.
Nein, er haßt diese wilde Zappelei, wie er sie an vielen seiner Freunde wahrnimmt. Er liebt seinen anständigen beschäftigten Müßiggang. Es ist gut, in seinem schönen Haus zu sitzen, mit seinen Büchern, mit gesichertem Einkommen, vor den Kiefernhügeln des Grunewalds. Es ist gut, daß er damals nach zwei Jahren mit Anna Schluß gemacht hat.
Hat er Schluß gemacht oder sie? Es ist nicht leicht, sich in der Historie des eigenen Lebens durchzufinden. Soviel ist gewiß, er würde es vermissen, wenn Anna ganz aus seinem Leben verschwände. Es bleibt freilich immer Bitterkeit zurück, wenn sie sich treffen. Anna ist so streitbar. Sie hat eine so unumwundene, scharfe Art, jeden Fehler, jede kleinste Schwäche zu charakterisieren. Sooft er mit ihr zusammenkommen soll, selbst vor jedem ihrer Briefe, hat er ein Gefühl, als habe er vor Gericht zu erscheinen.
Er hält den Brief in der Hand, greift zum Öffner, schlitzt ihn auf, mit einem Schnitt. Die dichten Brauen heftig zusammengezogen, senkrechte, scharfe Furchen über der starken Nase, das ganze, große Gesicht gespannt, liest er.
Anna gratuliert, in wenigen Worten, herzlich. Mit ihrer schönen, gleichmäßigen Schrift teilt sie ihm mit, sie habe ihren Urlaub auf Ende April gelegt und werde diese vier Wochen gerne mit ihm verbringen. Wenn er sie treffen wolle, bitte sie um Vorschläge, wo.
Gustavs Gesicht entpannt sich. Er hat Angst vor diesemBrief gehabt. Es ist ein guter Brief. Anna hat kein leichtes Leben. Sie ist Direktionssekretärin der Stuttgarter Elektrizitätswerke, sehr in ihre Arbeit eingespannt, ihr Privatleben drängt sich auf die vier Wochen Urlaub zusammen. Daß sie ihm diese vier Wochen anbietet, beweist, daß sie ihn nicht aufgegeben hat.
Er liest den Brief ein zweites Mal. Nein,
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