Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
abfaulen.
Er ist am Haupteingang. Der alte Portier Leschinsky steht da mit seinem harten Gesicht und seinem eisgrauen Schnurrbart. Aber er dreht nicht die Tür vor ihm auf. Sie haben auch ihm ein Plakat um den Hals gehängt: »Juda verrecke.« Er schaut zu seinem Herrn auf, demütig, hilflos, wütend, hoffnungsvoll. Martin grüßt ihn nicht mit einem Finger am Hutrand wie sonst, sondern er nimmt den Hut vor ihm ab und sagt: »Tag, Leschinsky.« Aber weiter unternimmt er nichts, er ist klug. Wie er die Tür drehen will, tritt der Führer auf ihn zu. »Wissen Sie nicht, Herr«, sagt er, »daß heute Judenboykott ist?« – »Ich hin hier der Chef, wenn Sie gestatten«, sagt Martin. Die andern uniformierten Völkischen stehen um sie herum, auch sonst hören Leute zu, alle interessiert, schweigend. »So?« sagt der Führer. »Da sind Sie was Rechtes.« Und Martin, unter den Blicken aller, betritt sein Geschäft.
Alle Angestellten sind zur Stelle, aber kein Käufer ist da. Im Chefkontor findet Martin die Herren Brieger und Hintze. Herr Hintze hat nun doch das Bild an die Wand hängen lassen, auf dem Ludwig Oppermann in Uniform zu sehen ist, mit dem Eisernen Kreuz Erster Klasse, und darunter hat Hintze sehr groß und deutlich schreiben lassen: »Gefallen für das Vaterland am 22. Juli 1917.« – »Das hätten Sie nicht tun sollen, Hintze«, sagt Martin finster. »Sie hätten überhaupt nicht kommen sollen. Sie schaden nur sich, und uns helfen Sie nicht.«
»Gibt es etwas Neues?« wandte er sich an Brieger. »Bis jetzt sind die Leute friedlich«, gab der Bescheid. »Auf dem Weg hierher habe ich vor dem kleinen jüdischen Zigarrenladenin der Burgstraße einen Völkischen Wache stehen sehen. Der Mann schaute auf seine Uhr, es war noch vor zehn, dem offiziellen Beginn des Boykotts. Er legte sein Plakat ab, ging in den Laden, holte sich ein paar Zigaretten und hängte sein Plakat wieder um. Auch die Unsern haben sich ein paar Sachen in den Fenstern sehr interessiert angeschaut und nach den Preisen gefragt. Ich bin überzeugt, sie beißen an, vorausgesetzt, daß die Führer sie nicht auffordern, sich die Sachen ohne Bezahlung zu holen. Heute wird die Losung ja mager ausschauen. Bis jetzt waren ganze sechs Kunden hier, darunter ein sicherer Goi. Der Goi war Ausländer, er fuchtelte mit seinem Paß. Er ist aus Daffke gekommen, er hat einen Ersatzknopf für einen Sessel gekauft, um sechzig Pfennig. Dann war die alte Frau Litzenmeier da. Sie wollten sie nicht hereinlassen, aber sie erklärte, schon ihre Mutter habe bei uns gekauft, und sie wollte sich gerade heute das neue Bett für ihr Mädchen aussuchen. Sie schnitten ihr die Haare ab und drückten ihr einen Stempel auf: ›Ich Schamlose habe bei Juden gekauft.‹«
»Was war mit Leschinsky los?« erkundigte sich Martin. »Er ist hochgegangen, der Alte«, gab ihm Brieger Auskunft, »er hat ihnen was zugerufen, ›Schweinebande‹ oder so. Die Braunen hier bei uns sind gemütlich, sie haben ihn nicht in ihre Kaserne mitgenommen, sie haben ihm nur das Plakat umgehängt.«
Die Zeit verrann überaus langsam. »Sehen Sie, Herr Oppermann«, sagte Brieger, »heute halten wir nun doch einmal Schabbes hier in der Gertraudtenstraße. Ich hab es Ihnen immer gesagt.«
Später kamen zwei von den Landsknechten ins Kontor. Sie legten die Rechnung vor für das Ankleben der Boykottplakate. Es waren achtzehn Plakate, die sie geklebt hatten, dazu das, das sie dem Portier umgehängt hatten. Sie forderten zwei Mark Klebegeld pro Plakat, also insgesamt achtunddreißig Mark. »Sind Sie toll geworden?« fuhr Hintze los. »Wir sollen euch bezahlen, daß ihr …?« – »Still, Hintze«, gebot Martin.»Das ist Vorschrift«, sagte stramm und trocken einer der beiden Landsknechte. »Das wird im ganzen Reich so gehandhabt.« Verbissenen Gesichts schrieb Hintze die Anweisung auf die Kasse aus. »Zwei Mark pro Plakat«, schüttelte Brieger den Kopf und pfiff durch die Zähne. »Sie haben gepfefferte Preise, meine Herren. Unsere Dekorateure hätten das für dreißig Pfennig pro Plakat gemacht. Können Sie es nicht wenigstens für eins fünfzig machen?« Die Landsknechte standen stur. »Heil Hitler«, sagten sie und zogen ab.
Es klebten aber an diesem Tage solche Plakate vor den Räumen von insgesamt 87 204 jüdischen Geschäften, jüdischen Ärzten, jüdischen Anwälten. Ein jüdischer Anwalt in Kiel, der sich nach einem Wortwechsel, entstanden, als die Landsknechte von ihm die Bezahlung der Klebegelder
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