Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Professor hier frei«, sagt er. »Ich bürge dafür, daß er das Haus verläßt.« Der Zweigesternte steht unschlüssig. »Gut«, sagt er endlich, »ich nehme es auf meine Kappe. Sie stehen dafür ein, Herr Professor, daß der Mann keinen Arier mehr anrührtund binnen zwanzig Minuten aus dem Hause ist. Wir warten solange.« Seine Leute geben Edgar frei, ziehen ab.
Aber nach wenigen Minuten sind sie wieder da. »Wer hat denn die Schamlosigkeit gehabt«, erkundigen sie sich, »sich heute von dem Juden operieren zu lassen?« Der alte Lorenz ist weggegangen. »Jetzt hören Sie gefälligst auf, die Herren«, fordert an seiner Statt Dr. Reimers sie auf; ganz gelingt es ihm nicht, seine Stimme ruhig zu halten, ein leises Knurren ist darin. »Sie halten das Maul, bis man Sie fragt«, weist ihn der Zweigesternte zurecht. Ein Student zeigt ihnen den Weg zu dem Operierten. Sie gehen in den Raum. Reimers folgt ihnen. Edgar, ein wenig taumelig, schwerfällig, mechanisch, trottet hinterher.
Die Anästhesierung bei Eingriffen in die Luftwege ist schwierig. Oppermann hat dafür ein bestimmtes Verfahren ausgebildet. Der Patient Peter Deicke ist bei Bewußtsein, aber er liegt unter viel Morphium. Aus seinem Kopf, einem einzigen weißen Verband, schauen die Augen schwimmend, stumpf glänzend auf die Eindringlinge. Entsetzten Gesichtes, die Arme schützend ausgebreitet, steht die diensttuende Schwester vor dem Bett. Die Landsknechte, festen Schrittes, kommen auf sie zu, drängen die Sprachlose, Zitternde weg. Die Völkischen sind Leute, die sich aufs Organisieren verstehen, sie haben alles wohl vorbereitet, sie haben ihre Gummistempel mit. »Schweinehund«, sagen sie zu Peter Deicke, und auf seinen Verband drücken sie ihren Stempel: »Ich Schamloser habe mich von einem Juden behandeln lassen.« – Dann »Heil Hitler« rufen sie und marschieren die Treppe hinunter.
Edgar, wie willenlos, wie an Drähten, trottet immer mechanisch hinter ihnen her, in stierem, hilflosem Nachdenken. Schwester Helene faßt ihn am Arm, bringt ihn ins Chefzimmer. Holt den alten Lorenz. Die beiden Männer stehen einander gegenüber, beide sind sehr bleich. »Entschuldigen Sie, Oppermann«, sagt Lorenz. »Sie sind unschuldig, Kollege«, sagt mühsam Oppermann, trocken, heiser, und zuckt mit den Achseln, mehrmals, schwerfällig, automatisch. »Dannwerde ich jetzt wohl gehen«, sagt er. »Wollen Sie nicht den Kittel ablegen?« bittet Lorenz. »Nein«, erwidert Edgar. »Danke, Kollege. Den wenigstens will ich mitnehmen.«
»Tu mir den Gefallen, Martin«, hatte Liselotte am Abend vor dem Boykott Martin gebeten, »geh morgen nicht ins Geschäft.« Sie dachte an die Juden, von denen sie wußte, daß sie erschlagen oder infolge der erlittenen Unbilden gestorben waren, sie dachte an die Mißhandelten, von denen die Krankenhäuser des Reichs voll waren. »Geh nicht ins Geschäft«, bat sie und trat ganz nahe an ihn heran. »Versprich es mir.«
Martin zog seinen Zwicker heraus, putzte daran herum. Seine Haare waren grau geworden, noch schütterer, sein Rücken rund, seine Backen schlaff. »Nimm’s mir nicht übel, Liselotte«, sagte er, »ich werde ins Geschäft gehen. Hab keine Angst.« Er tätschelte, was er früher nie getan hatte, mit seiner schweren, behaarten Hand ihre Schulter. »Es passiert mir nichts«, fuhr er fort. »Ich weiß genau, bis zu welchen Grenzen ich gehen kann. Ich bin klug geworden, Liselotte«, und er wiegte auf merkwürdige Art den Kopf. Er hatte es aufgegeben, Würde und Haltung zu zeigen, er sprach mehr als früher, hatte manchmal ein schlaues, einverständnisvolles Augenzwinkern. Es war eine Ähnlichkeit da zwischen ihm und dem alten Immanuel, ja, zwischen ihm und seinem Schwager Jacques Lavendel; Liselotte sah es erstaunt. Martin war alt geworden, trotzdem fand sie ihn männlicher, widerstandsfähiger, voll von einem tieferen Wissen um Welt und Menschen. Sie liebte ihn sehr.
Sie drängte nicht weiter in ihn. Sie saßen still zusammen. Wieder dachte sie an die schauerlichen Vorgänge bei dem Unglück. Keine Stunde verging, daß sie nicht daran dachte. Immer wieder stand sie vor der Tür, wie sie das erstemal davor gestanden hatte, als sie das Röcheln des Jungen hörte. Sah ihn daliegen, lang, auf dem Rücken. Hob seinen Arm, der tot zurückfiel, sein Bein, das zurückfiel wie Holz. Und dabei röchelte er doch, atmete, sein Puls ging; er lebte also. Undwar dennoch tot, seine Haut war kalt und weiß, und es gab kein Mittel mehr, zu
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