Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
seinem Bewußtsein vorzudringen. Die Ärzte pumpten ihm den Magen aus, wieder und wieder, wärmten ihn, führten ihm künstlich Nahrung zu, Tee mit Kognak, Milch, gaben ihm Herzmittel ein, sie erinnerte sich der vielen fremden Namen, Cardiazol, Digalen, Strophantin, Eutonon. Drei Tage lag er so, lebendig und dennoch tot; denn alle wußten, daß es kein Mittel gab, ihn zu retten. Die Sauerstoffbombe half nicht, nicht die Magenspülungen, er lag, die Haut weiß und kalt, röchelte, schluckte nicht den Schleim, der ihm den Rachen füllte. Der Puls ging sehr langsam, und schließlich stand er still. Aber Berthold war schon tot gewesen, als sie ihn das erstemal röcheln hörte, und sie hatte es gewußt. Es war Martin, der immer wieder zu den Ärzten gesagt hatte: »Tun Sie etwas, helfen Sie ihm.« Sie hatte gewußt, daß niemand helfen kann. Sie allein hätte helfen können, aber sie hatte es nicht getan. Sie maß sich die ganze Schuld bei. Martin hatte seine eigenen Sorgen: ihre Pflicht war es gewesen, den Jungen zu bewahren.
Bei alledem war ihr die Maßlosigkeit Martins ein Trost. Er hatte geschrien, geheult, hatte Tobsuchtsanfälle gehabt. Hatte das Manuskript Bertholds gelesen, wieder und wieder, hatte es abschreiben lassen, hatte dann verrückterweise Berthold dieses Manuskript und das Schreiben des Feldmarschalls Moltke in den Sarg gelegt. Dann hatte er auf altjüdische Art getrauert, am Boden hockend, den Anzug eingerissen, hatte, neun fromme Juden um sich, das Totengebet gesprochen.
Er war von dieser siebentägigen Trauer um seinen Sohn als ein veränderter Mann aufgestanden. Aber sie, Liselotte, erkannte gerade in diesem neuen Mann jenen Martin, den sie von Anfang an in ihm gespürt hatte. Sie entdeckte Eigenschaften, wie sie sie an ihrem Schwager Jacques liebte, die List im Kampf für das, was einer als das Rechte erkannt hat, die Abkehr von aller Repräsentation, das zäh Elastische, wenn es um die Sache ging. Martin und sie waren sich jetzt, ohne Worte, viel näher als früher.
Niemals sprachen sie über Berthold.
Hingegen sprach Martin Liselotte jetzt manchmal vom Geschäft. Er nahm jede Demütigung durch Wels ohne Widerspruch hin, kämpfte aber mit um so zäherer List um das, was ihm wichtig war. Seine Tätigkeit in der Gertraudtenstraße war auf weniger als ein Jahr befristet, aber er arbeitete, als kümmere ihn das nicht. Nahm jüdische Angestellte, auf Verlangen des Wels aus den Deutschen Möbelwerken entlassen, bei sich auf.
An dem Sonnabend des Boykotts also fuhr er ins Geschäft wie immer. Er betrachtete die Menge, die neugierig, angeregt den Boykott besichtigte. Sah die Plakate in den Schaufenstern, hörte die Sprechchöre der völkischen Landsknechte. Wiegte den Kopf. Dieser Boykott war, wie die meisten Maßnahmen der Völkischen, eine leere Komödie. Die offizielle Begründung, man wolle auf diese Art die Empörung der zivilisierten Welt über die Pogrome zum Verstummen bringen, war läppisch. Selbst die Minister der Völkischen mußten sich sagen, daß Klagen über Mißhandlungen nicht dadurch widerlegt werden, daß man den Geschlagenen weiter schlägt. Die wahren Gründe des Boykotts waren andere. Vierzehn Jahre hindurch hatten die völkischen Führer ihren Anhängern versprochen, sie dürften die Juden totschlagen, ihre Häuser und Geschäfte plündern. Aber kaum hatte man sich darangemacht, da sahen sich die Führer durch die Entrüstung der Welt gezwungen, ihre Leute zurückzupfeifen. Jetzt, mittels dieses demonstrativen Boykotts, wollten sie die Enttäuschten besänftigen.
Martin ließ Franzke an der Ecke der Gertraudtenstraße halten, er wollte sich in Ruhe anschauen, wie es um sein Geschäft bestellt war. Sie haben den Namen Oppermann nicht vergessen, nun sie an der Macht sind. Mehr als ein Dutzend Landsknechte haben sie vor sein nicht großes Geschäft gepflanzt und einen mit zwei Sternen zur Aufsicht. Dick in allen Schaufenstern kleben die Plakate »Kauft nicht bei Juden« und »Juda verrecke«. Auch ein Porträt des alten ImmanuelOppermann haben sie aufgefunden und ihm humoristischerweise das Plakat »Juda verrecke« so angeklebt, daß es wie ein Spruchband aus seinem Munde hängt. »Die Juden sind euer Unglück«, hört Martin die jungen Landsknechte im Sprechchor rufen, und am letzten Schaufenster entdeckt er eine große Inschrift: »Diesem Juden sollen die Hände abfaulen.« Martin beschaut seine Hände. Sie sind rötlich und behaart, vermutlich werden sie nicht so bald
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