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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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unvernünftig, heut in die Klinik zu fahren. Aber er kann den Fall Peter Deicke nicht im Stich lassen. Peter Deicke, Fall 978, achtzehn Jahre alt, Patient dritter Klasse, war aufgegeben, ehe man ihn hierherschaffte. Der erste Eingriff hat nicht genügt. Vielleicht wird auch der zweite nicht mehr zum Ziel führen; aber jedenfalls ist er das einzige Mittel, das, vielleicht, Peter Deicke retten kann. Er hätte diesen zweiten Eingriff Reimers überlassen können. Nein. Er kann nicht das Risikoletalen Ausgangs vermehren, weil die Herren für heute ihren läppischen Boykott angeordnet haben.
    Er segelt durch die langen Korridore der Klinik. Alles geht seinen gewohnten Gang. Vierundzwanzig jüdische Ärzte sind in der Klinik beschäftigt. Alle sind sie da, selbst der kleine Jacoby. Man ist eilig wie stets, kein Wort vom Boykott, aber Edgar spürt auf den scheinbar gleichgültigen Gesichtern die gedrückte Stimmung. Der kleine Jacoby ist blaß, allen Mitteln zum Trotz schwitzt er heute leicht an den Händen.
    »Bereiten Sie den Fall 978 vor«, weist Edgar Schwester Helene an. Plötzlich ist Dr. Reimers da. Leise, in seiner gutmütigen, etwas derben Art, bittet er Edgar: »Türmen Sie, Herr Professor. Es ist vollkommen sinnlos, daß Sie hierbleiben. Man kann nicht wissen, was der exaltierte Mob anstellt. Wenn Sie gehen, bringe ich vielleicht auch den kleinen Jacoby hinaus. Daß der Mensch hier ist, ist ja der reine Selbstmord.« – »Schön, lieber Reimers«, erwidert Edgar, »jetzt haben Sie Ihren Spruch aufgesagt, und jetzt gehen wir an Fall 978.«
    Er nimmt den Eingriff vor.
    Kaum hat man den Patienten in seinen Saal zurückgefahren, sind sie da. Sie haben eine Liste der vierundzwanzig Ärzte, die in der Städtischen Klinik amtieren. Sie fragen nach ihnen, aber das Personal leistet passive Resistenz, man zeigt ihnen die Ärzte nicht. Unter Führung einiger völkischer Studenten machen sie Jagd auf sie. Sooft sie einen gepackt haben, führen sie ihn hinaus. Sie erlauben nicht, daß die Ärzte ihre weißen Kittel ablegen, ja, fassen sie einen ohne Kittel, dann zwingen sie ihn, den seinen anzuziehen. Draußen vor dem Hauptportal wartet eine riesige Menge, und sooft ein neuer weißer Kittel erscheint, geht er unter in ungeheurem Gejohle, Gepfeife, wüsten Schmährufen.
    Jetzt haben sie Edgar aufgestöbert: »Sind Sie Professor Oppermann?« fragt ihn einer mit zwei Sternen am Kragen. »Ja«, sagt Oppermann. »Das wäre Nummer vierzehn«, sagt befriedigt ein anderer und streicht den Namen von seiner Liste. »Sie haben die Anstalt sofort zu verlassen«, sagt der mitden zwei Sternen. »Kommen Sie mit.« – »Professor Oppermann hat soeben eine Operation vorgenommen«, greift Schwester Helene ein, ihre Stimme ist nicht so leise wie sonst, ihre runden, braunen Augen sind groß vor Zorn. »Es ist wichtig«, sagt sie beherrscht, »daß der Kranke noch einige Zeit unter seiner Beobachtung bleibt.« – »Wir haben Order, den Mann auf die Straße zu setzen«, sagt der Zweigesternte. »Wir haben hier die vierundzwanzig jüdischen Ärzte auszutreiben, auf daß Deutschland gereinigt werde«, sagt er feierlich und papieren, den Dialekt so gut wie möglich vermeidend. »Schluß«, sagt er.
    Mittlerweile hat eine der Schwestern Geheimrat Lorenz verständigt. Auf dem Korridor dröhnt er heran, auf die Eindringlinge zu, mächtig, im wallenden, weißen Mantel, den roten Kopf vorgestoßen, ein wandelnder Berg. »Was geht hier vor, Herr?« bricht es aus seinem goldenen Munde heraus, wie Felsbrocken. »Was erlauben Sie sich? Ich hin hier der Hausherr, verstanden.« Geheimrat Lorenz ist einer der populärsten Ärzte des Reichs, vielleicht der populärste, selbst einige der Völkischen kennen sein Bild aus den illustrierten Zeitungen. Der Zweigesternte hat ihn mit der altrömischen Geste begrüßt. »Es ist nationale Revolution, Herr Professor«, erklärt er. »Juden raus. Wir haben Order, die vierundzwanzig Juden hier hinauszuschmeißen.« – »Da müssen Sie schon fünfundzwanzig Mann hinausschmeißen, meine Herren, da geht nämlich der alte Lorenz mit.« – »Das können Sie halten, wie Sie wollen, Herr Professor«, sagt der Zweigesternte. »Wir haben unsere Order.« Der alte Fürchtegott ist hilflos, das erstemal vollkommen hilflos in seinem Leben. Er sieht, Professor Oppermann hat recht gehabt: es ist keine akute Krankheit, an der das Volk leidet, es ist eine chronische. Er verlegt sich aufs Unterhandeln. »Lassen Sie wenigstens den

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