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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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Stundenschlag in sich auf, mechanisch erst, dann drang er ihm ins Bewußtsein. Er riß sich aus seiner Versunkenheit. Seine gewohnte Mittagszeit ist längst vorbei. Er merkt plötzlich, daß er hungrig ist, macht sich auf den Heimweg. Mit seinem raschen, steifen Schritt geht er die Promenade zurück. Verhöhnt sich. Was ist denn eigentlich mit ihm los? Was will er denn? Wohin hat er sich denn verrannt? Er ist ein Berliner Kaufmann des Jahres 1933, interessiert an literarischen Dingen, hinlänglich vermögend. Weil er eitler- und unbesonnenerweise unter ein reichlich überflüssiges Dokument eine Unterschrift gesetzt hat, sind ihm etliche Unannehmlichkeiten entstanden. Und deshalb will er unter die Propheten? Was haben reiche Leute unter den Propheten zu suchen? Das ist übrigens die richtige Deutung. »Saul unterden Propheten« bedeutet: was will der reiche Mann unter den Propheten? Aber er ist ein »Betrachtender«, hat Frischlin gesagt. Weil er ein »Betrachtender« ist, hat dieser Bilfinger zu ihm geredet. Offenbar nehmen sie an, daß das verpflichtet. Unsinn. Wie romantisch, wie unzeitgemäß. Wenn Sie schon partout den Drang zum Höheren in sich spüren, Herr Dr. Oppermann, dann nehmen Sie sich gefälligst Ihren Lessing vor. Auch Herrn Dr. Frischlin täte besser, sich etwas mehr mit dem Lessing zu befassen als mit der Weltordnung. Zu sagen, was ist, zu schreien, die Welt aufzurütteln, dazu sind andere berufen. Wie kommen Sie dazu, Herr Dr. Oppermann? Wer hat Sie beauftragt?
    Er ging essen. Er aß gut und mit Appetit. Mit dem Hunger vergingen die läppischen, romantischen Anwandlungen. Er legte sich hin, schlief ein, schlief gut, traumlos.
    Er wurde geweckt durch Bilfinger, der ihm die Dokumente brachte. Sogleich war alles wieder da, und er hätte sich am liebsten, ohne einen Augenblick zu verlieren, auf die Dokumente gestürzt. Er mußte sie in sich haben, bevor Johannes Cohen kommt, damit der ihm nicht sein Gefühl verwirren kann.
    Aber Bilfinger ließ es nicht zu, Bilfinger ging nicht wieder weg, Bilfinger blieb. Dr. Oppermann hatte ihn einmal angehört, er war verpflichtet, ihn weiter zu hören; die Dinge gingen ihn nicht weniger an als ihn selber. Er saß da, der leidenschaftliche Jurist Bilfinger, schaute aus seiner goldumrandeten Brille auf Gustav, sprach in trockenen, druckreifen Sätzen. Von jeher war es so, daß die Deutschen dazu neigen, das geschriebene Recht durch die Autorität eines einzelnen Führers zu ersetzen. Schon zu Zeiten der Römer hatten sie gefunden, ein für alle verbindliches Recht gehe gegen die Ehre des einzelnen, und wenn sie die Römer haßten, so war das nicht, weil diese römisches Recht, sondern weil sie Recht überhaupt bei ihnen einführen wollten. Sie lassen sich lieber aburteilen nach dem Gefühl eines Höheren, an den sie glauben, als nach vernunftmäßig festgesetzten Paragraphen. DerFührer aber leider billigt den Mord. Der Führer hat Völkische, die wegen der viehischen Ermordung eines Arbeiters abgeurteilt waren, als seine Kameraden gegrüßt. So etwas bestärkt das Volk in dem Gefühl, daß es nicht auf einen Urteilsspruch ankomme, sondern lediglich auf die »jeweilige Eingebung« des Führers. Das führt dann zu Geschehnissen wie denen, die er in Württemberg erlebt hat.
    Es war ihm nicht leichtgefallen, sagte er noch, aus Deutschland wegzugehen. Er ließ nicht nur Deutschland zurück, die Aussicht auf eine ehrenvolle Laufbahn, die Aussicht auf ein schönes Gut, auf dem seine Familie mehr als hundert Jahre zu Hause war, er ließ auch ein Mädchen zurück, an dem er hing. Er hat ihr jetzt die Alternative gestellt, zu ihm zu kommen und dieses Deutschland aufzugeben, bis es wieder ein Rechtsstaat sei, oder aber ihn von seinen Verpflichtungen zu entbinden.
    Dies setzte Bilfinger Gustav auseinander, bekümmert, beflissen, schwäbisch und gerecht.
    Gustav, während Bilfinger sprach, schaute auf die Dokumente. Da lagen sie, wie er es sich vorgestellt hatte, groß, schwer, auf dem zierlichen Hotelschreibtisch. Kaum war Bilfinger fort, stürzte er sich auf sie. Nahm sie, las sie. Ja, es ging von ihnen die gleiche Erregung aus wie gestern von Bilfingers Bericht. Wieder wurden ihm die trockenen Worte leibhaft. Der organisierte Sadismus, das raffiniert ausgeklügelte System von Demütigungen, die bürokratisierte Zerschlagung der Menschenwürde, all die Geschehnisse, von denen die Dokumente nüchtern, beamtenhaft berichteten, wandelten sich ihm in bewegte Bilder. Sie waren da,

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