Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
langsam wie ein Kind begann sie zu weinen. Sie weinte haltlos, sie legte sich auf den Bauch, das Kissen war ganz naß. Allmählich aber wandelte sich ihre Enttäuschung in Zorn. Gustav war geächtet in Deutschland, man gefährdete sich, wenn man sich zu ihm bekannte, mit ihm verkehrte. Sie wollte das auf sich nehmen, wollte zu ihm fahren, und er, mit lässiger, hochmütiger Geste, wies ihre Freundschaft zurück. Er hat sich niemals bemüht, sich in sie einzufühlen. Gerade weil sie tief innen wußte, daß sie den Mann aus eigenem Verschulden verloren hatte, war sie empört über ihn. Sie beantwortete seinen Brief nicht.
Sie empfand keine Langeweile mehr, wenn Gutwetter ihr auf seine stille, altmodische Art den Hof machte. Bald sah man Gutwetter nur mehr in ihrer Begleitung.
Oberlehrer Vogelsang, als der Schüler Berthold Oppermann damals in der Aula nicht erschien, um Abbitte zu leisten, war tief ergrimmt. Er hatte die Berichterstatter der völkischen Presse bestellt, das Lehrerkollegium und die Schüler der Anstalt versammelt, eine schneidige, zündende Rede vorbereitet, und nun erdreistete sich dieser Judenjunge, sich einfach zu drücken und ihn um die erhebende Feier zu betrügen. Als man auf Anruf in der Wohnung des Schülers erfuhr, Berthold Oppermann sei auf den Tod krank, hatte Vogelsang nur ein verächtliches Lächeln. Auf solche Finten fiel er nicht herein. Streitbar, quäkend hatte er erklärt, es werde dem frechen Burschen nicht glücken, sich der Sühnung seines Verbrechens durch diese vorgeschützte Krankheit zu entziehen. Alsdann drei Tage darauf die vorgeschützte Krankheit mit dem Tode des Schülers endete, nahm man Vogelsang in der Unterprima diese Äußerung sehr übel. Es entstand, als er die Klasse betrat und zu sprechen begann, jenes dumpfe, mit unbewegten Gesichtern hervorgebrachte Gesumm, das seinerzeit den Oberlehrer Schultes vom Kaiser-Friedrichs-Gymnasium veranlaßt hatte, sich tränenden Auges zur Wand zu stellen. Vogelsang kehrte sich nicht zur Wand. Seine Narben liefen noch röter an; er gab sich das Wort, den Geist der Zersetzung für immer in den Staub zu treten.
Bald kam ihm die Gelegenheit. Jene Tränen nämlich hatten nicht verhindert, daß Oberlehrer Schultes Unterrichtsminister wurde. Bernd Vogelsang, seit Jahren gut mit Schultes bekannt, hatte sich ihm in Berlin tiefer angefreundet. Seiner Versetzung ins Ministerium stand nichts im Weg.
Aber vorher muß er hier im Königin-Luise-Gymnasium reinen Tisch machen. Dies hat er sich zum ersten Ziel gesetzt, als er Berlin betrat. Ein deutscher Mann läßt eine Arbeit nicht halb getan liegen.
Da ist zunächst die Sache Werner Rittersteg. Das Verfahren gegen ihn ist selbstverständlich eingestellt worden, er ist der anerkannte Führer seiner Kameraden, Pedell Mellenthin steht stramm vor ihm, fast so lange wie vor Vogelsang selber. Aber, es ist keine Frage, die Leistungen Ritterstegs im Deutschen und in der Mathematik sind ungenügend; nach den geltenden Regeln könnte er in die Oberprima nicht versetzt werden. Vogelsang seinesteils fand, hier sei Pedanterie nicht am Platz, man könne dem Helden Rittersteg die Schmach der Nichtversetzung nicht antun. Nicht auf totes Wissen allein komme es an, erklärte er, Lücken im Schulwissen seien durch Überschuß an Ethos reichlich ersetzt. Allein damit stieß er bei Rektor François auf eisige Verwunderung. Ein Schüler, der in zwei Unterrichtsfächern nicht genügte, konnte nicht versetzt werden. Zäh, pedantisch zog sich der Rektor auf den Wortlaut der Bestimmung zurück.
Bernd Vogelsang hatte für diese Hartnäckigkeit nur einhochmütiges Lächeln. Wozu hat man die Macht? Bestimmungen aus der Epoche des Verfalls und der deutschen Schmach waren vor der nationalen Revolution Spinnweb vor einem Maschinengewehr. Saß man doch selber am Hebel der Gesetzesmaschine. Eine kleine Drehung: und ganze Bibliotheken früherer Verordnungen waren Makulatur. Man will einen jungen Helden im Gestrüpp alberner Paragraphen fangen, will ihm die Laufbahn, die Tätigkeit für das Neue Deutschland erschweren, weil sein Schulwissen den Zufällen eines Examens nicht standgehalten hat? Das wäre ja gelacht. Mit so bösartiger Sabotage muß grundsätzlich aufgeräumt werden. Vogelsang regte im Unterrichtsministerium eine Verfügung an, es sei Examinanden, die sich um die nationale Sache besonders verdient gemacht hätten, sowohl auf den Gymnasien wie auf den Universitäten die Prüfung tunlichst zu erleichtern.
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