Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
Vom Netzwerk:
sie waren auf dem gelben Fleck seines Auges. Es waren viele Dokumente, er las sie genau, quälend lange las er an ihnen, er brauchte zwei Stunden, bis er durch war.
    Dann, mit schwerer, mechanischer Bewegung, sperrte er die Schublade auf, um sie hineinzulegen. Aber die Schublade war klein, und es war schon ein Pack Briefe darin. Er nahm ihn heraus. Es war der Pack Korrespondenz, den Frischlin ihm übersandt hatte. Obenauf lag jene Mahnkarte, die erseinerzeit, an seinem fünfzigsten Geburtstag, diktiert hatte: »Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.«
    Es traf Gustav wie ein Schlag. Die Schienen des Berner Bahnhofs, Fäden zwischen ihm und Frischlin, sich endlos abspulend, doch nie abreißend. Bilfinger, der Sendbote. »Wer hat mich beauftragt?« hat er sich gefragt, bequem, vor wenigen Stunden, und hat gegessen und sich schlafen gelegt.
    Er starrte auf die Karte. Klaus Frischlin hat damals, wie er es gewohnt war, den Namen mit der Maschine daruntergesetzt und Raum für die handschriftliche Unterzeichnung frei gelassen. Gustav nahm die Feder, setzte seinen Namen unter die Karte. Legte die Karte oben auf die Dokumente Bilfingers, verstaute alles ordentlich in der Schublade.
    Saß davor, die Arme auf die Glasplatte des lächerlichen, kleinen Schreibtischs gestützt, heftig und schmerzhaft mit den Augen zwinkernd.
    Des Abends stand er am Bahnhof, um Johannes abzuholen. Es war noch sehr früh, der Zug hatte Verspätung. Endlich lief er ein. Gustav suchte nach dem gelbbraunen, lebendigen Antlitz seines Freundes, voll Erwartung auf den bösartigen Witz, mit dem er ihn begrüßen wird. Es stiegen viele Leute aus, auch Bekannte, es war Nacht, der Bahnhof nicht übersichtlich. Gustav suchte lange, aber er suchte vergeblich. Verwundert, tief enttäuscht ging er ins Hotel zurück. Vielleicht hat ihn Johannes übersehen und ist gleich ins Hotel gefahren. Aber er fand ihn auch nicht im Hotel. Johannes war nicht gekommen.
    Auch am nächsten Morgen war er nicht da. Gustav depeschierte. Wartete den ganzen Tag. Keine Antwort. Den andern Tag kam ein Telegramm: »Johannes für die nächste Zeit dringlich verhindert Richard.« Gustav erschrak. Richard war Johannes’ Bruder. Was mochte Johannes dringlich verhindern?
    Wieder zwei Tage später erhielt er einen in Straßburg aufgegebenen Brief eines Unbekannten, der ihm im AuftragRichard Cohens meldete, Johannes sei am Donnerstag von völkischen Landsknechten festgenommen und vermutlich in das Konzentrationslager Herrenstein gebracht worden.
    Was ihn anlange, beantwortete Gustav Friedrich Wilhelm Gutwetters Brief, so bitte er Gutwetter, seine Bibliothek oder vielmehr die Reste seiner Bibliothek nach Belieben zu benützen. Nur hielten sich leider, soweit er unterrichtet sei, jetzt andere Stellen für berechtigt, eine solche Erlaubnis zu erteilen oder zu verweigern. Wenn es Gutwetter gelinge, in der Max-Reger-Straße Zutritt zu bekommen, so möge er sich seine Bibliothek genau anschauen, das, was da sei, und die Lücken und vor allem die beschädigten, zerfetzten Exemplare. Es seien viele Büchersammlungen in Deutschland in diesem ramponierten Zustand, und es seien auch die Besitzer der Sammlungen in diesem Zustand, soweit sie sich nicht rechtzeitig gedrückt hätten. Nachdem Gutwetter mit großen Worten beschrieben habe, wie der »Neue Mensch« ausschauen werde, möge er gefälligst auch die Leiden derjenigen alten Menschen beschreiben, die, höchst unschuldig, für die Entstehung dieses »Neuen Menschen« zu zahlen hätten.
    Gutwetter, dies lesend, schüttelte seinen stillen, freundlichen Kopf. »Was will unser Freund?« sagte er zu Sybil, verwundert. »Woher diese Gereiztheit? Wie kann er von mir verlangen, daß ich kleine Privaterlebnisse mit Sätzen beschreibe, die nur kosmischen Geschehen gemäß sind? Fordert er im Ernst, daß ich das dionysische Erleben verleugne, dessen Schallplatte ich sein möchte, weil ihm einige Unannehmlichkeiten zugestoßen sind?«
    Friedrich Wilhelm Gutwetter hatte neuen Auftrieb. Er war seinen Weg gegangen nach dem Gesetz, nach dem er angetreten. Hatte das Heraufkommen des »Neuen Menschen«, des natürlicheren, der zu seinem urtümlichen, wilden Instinkt steht, gefeiert, wie er es von jeher getan hatte. Nichts weiter. Er war nicht überrascht, daß die Geschichte nun endlich seine, des Dichters, Visionen wahr machte. Überraschthingegen waren die Völkischen, daß sie einen Mund wie den seinen gefunden

Weitere Kostenlose Bücher