Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
– ›Also darum‹, erwiderte der Polizist. ›Jetzt ist er nämlich gestorben.‹ Man hat die Leiche auch herausgegeben, in einem verlöteten Sarg allerdings und gegen die eidesstattliche Versicherung, daß man den Sarg nicht öffnen werde. Haben Sie in München nichts davon gehört, Weinberg?«
Der Fabrikant Weinberg rückte unbehaglich auf der Bank. Oppermann hatte nicht leise gesprochen, und hier verstand fast jeder Deutsch. Ach ja, wie hat er das nur vergessen können, dieser Oppermann hatte sich ja selber exponiert, gerade noch vor Torschluß, der Idiot. »Gewiß, gewiß«, begütigte er, »es ist Schreckliches geschehen. Niemand leugnet das. Ich habe es ja selber gesagt. Aber doch nur in den ersten Tagen. Jetzt hat die Regierung längst gestoppt, ich versichere es Ihnen. Und die ganze antisemitische Bewegung würde abflauen, wenn nur endlich die Juden im Ausland Ruhe gäben. Ich weiß das. Ich habe mit Maßgeblichen gesprochen. Die Leute wären froh, wenn sie diesen Punkt ihres Programms vollends abblasen könnten. Aber die im Ausland erlauben es ihnen ja nicht. Sie hetzen ja weiter, statt goldne Brücken zu bauen. Ich sage Ihnen, Oppermann, es ist in unser aller Interesse, auch in Ihrem, Übertreibungen zu dementieren. DasJammergeschrei schädigt nur die Juden, die dringeblieben sind. Schließlich wollen Sie selber auch einmal wieder zurück.«
Gustav schwieg. Herr Weinberg nahm an, seine Argumente hätten Eindruck gemacht, und versuchte, ihn vollends zu sänftigen. »Was übrigens diesen Rechtsanwalt Wolf anlangt«, sagte er, »so bleibt natürlich der Fall überaus bedauerlich. Aber, unter uns, der Mann soll ein besonders übler Kunde gewesen sein. Man sagt mir, einer der unsympathischsten Zeitgenossen.« – »Möglich«, sagte Gustav. »Wissen Sie, Weinberg, mit der Sympathie ist das so eine Sache. Möglich, daß zum Beispiel auch Sie dem einen oder andern nicht ganz sympathisch sind. Aber würden Sie es billigen, wenn zum Beispiel ich Sie deshalb hier in den See schmisse?«
Weinberg stand auf. »Man muß Ihrer Panikstimmung einiges zugute halten«, sagte er mit Würde. »Aber ich versichere Ihnen ernsthaft, Oppermann, wenn einer sich nicht selber exponiert, ist er kaum gefährdet. Ob Sie es glauben oder nicht, ich persönlich habe von dem ganzen Antisemitismus so gut wie nichts gespürt. Ich sage Ihnen, Oppermann, Sie selber werden nach einiger Zeit wieder nach Deutschland zurückkommen können. Sie werden sehen, der Schlafwagenkontrolleur wird sich für Ihr Trinkgeld genauso bedanken wie früher, und der Verkehrsschupo wird Ihrem Chauffeur genauso freundlich Auskunft geben wie vor einem Jahr.« – »Sie haben recht«, sagte Gustav, »man darf nicht ungenügsam sein.«
Er schaute, nachdem Herr Weinberg sich entfernt hatte, vor sich hin in die heitere Landschaft, die senkrechten Furchen in der Stirn. Sein nervöses Augenzwinkern war schlimmer geworden. Er hat wenig trainiert in der letzten Zeit. Er hielt den großen Kopf zur Erde gesenkt, als suche er etwas. Herrn Weinbergs Geschwätz rührte ihn tiefer auf, als er sich selber eingestand.
Es waren viele, die es machten wie Herr Weinberg. Sie fuhren über die breiten Straßen des Berliner Westens, wohntenin ihren großen Wohnungen und wollten nicht sehen, was in andern Vierteln, was in den Kellern ihrer eigenen Häuser geschah. Sie fanden, es sei Ruhe und Ordnung in Deutschland. Sie wurden sehr böse, wenn man von den hunderttausend Menschen in den Konzentrationslagern sprach und von den vierzig Millionen, die man, auf daß sie Ruhe hielten, damit bedrohte. Sie schwiegen, sie vergruben ihr Wissen in sich, so tief, daß sie es schließlich selber nicht mehr glaubten. Sie taten sich zusammen, alle, handelnd und duldend, um die Wahrheit dumm und frech zu verfälschen. »Sie haben die Maßstäbe der zivilisierten Welt zerbrochen«, hörte er deutlich die schwäbische Stimme Bilfingers, und er sah den Mann mit dem gelben Zentimeterstab und sah ihn schreiben: »2,50 Meter.«
Er sitzt da, den Kopf geneigt, finster. Malmt leise mit den Zähnen. Es ist vielleicht nutzlos, es ist vielleicht gegen die Vernunft, aber man muß reden. Sie zwingen ihre Gefangenen, sich auf eine Kiste zu stellen, Kniebeugen zu machen und auszurufen: »Ich Marxistenschwein habe mein Vaterland verraten.« Man kann nicht leben und schweigen und zuschauen, wie plump und frech sie die Wahrheit verfälschen.
Er starrte vor sich hin, entrückt. Irgendwo schlug eine Uhr. Er nahm den
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