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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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ganz genauen Angaben, was ich selber gesehen habe und was andre mir gesagt haben. Ich habe es vor einem Züricher Notar zu Protokoll gegeben und durch eidesstattliche Versicherungen erhärtet. So haben es auch, soweit sie ins Ausland flüchten konnten, die andern getan, die als Augenzeugen und als Opfer darüber berichten können. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen das Memorandum. Aber es ist sehr lang und nicht angenehm zu lesen.« – »Bitte, schicken Sie es mir«, sagte Gustav.
    Er konnte nicht essen an diesem Abend, konnte nicht schlafen in dieser Nacht, und der Plan, mit dem er gespielt hatte, das Haus da oben in Pietra zu mieten oder zu kaufen, erschien ihm jetzt absurd.
    Der junge Dr. Bilfinger hat seine aussichtsreiche Stellung in Deutschland hingeschmissen, hat sein Deutschland aufgegeben, weil dieses geschehen konnte, ungesühnt. Und Bilfinger ist Deutscher, nur Deutscher, nur eins mit denen, die schlagen. Für ihn, Gustav, ist es schlimmer. Er ist eins mit denen, die schlagen, und eins mit denen, die geschlagen werden.
    Einer wird mißhandelt, sie hauen ihn auf die Nieren, daß sie abgetrennt werden, die Knochen liegen bloß. Das hat er gelesen, das hat man ihm berichtet, aus Ostpreußen, aus Schlesien, aus Franken, aus der Pfalz. Aber es sind tote Worte geblieben. Erst jetzt, nach der Erzählung dieses jungen schwäbischen Menschen, sind die Dinge wirklich da. Jetzt sieht er sie, spürt sie. Die Schläge, von denen er gehört hat, reißen Wunden in seine eigene Haut.
    Nein, er kann sich nicht hinsetzen da oben in Pietra, untätig, in diesen Zeiten.
    Die Welle vergeht, des Menschen Fühlen und Denken vergeht wie die Welle. Aber dem Menschen ist es gegeben, das Unmögliche möglich zu machen. Man kann nicht in die gleiche Welle zweimal steigen, aber der Mensch kann es. Er sagt: »Steh still, Welle.« Er hält das Vergängliche fest im gestalteten Wort, im gestalteten Stein, im gestalteten Schall.
    Andere zeugen Kinder, um sich fortzusetzen. Ihm, Gustav,ist es manchmal gegeben, Schönheit, die er gespürt hat, andern zu vermitteln. Er ist ein »Betrachtender«, hat Frischlin gesagt. Das ist eine große Verpflichtung. Hat er nicht die Pflicht, die brennende Empörung, die er gespürt hat, weiterzugeben?
    Die Herrschaft der Völkischen wurde eingeleitet mit Ereignissen von einer Scheußlichkeit, wie sie das Abendland seit Jahrhunderten nicht mehr für möglich hielt. Aber sie haben Deutschland luftdicht abgeschlossen. Wer den Deutschen sagt, was in ihrem Lande geschieht, wer nur davon flüstert, wird verfolgt bis ins dritte Geschlecht. Am Kurfürstendamm in Berlin, am Jungfernstieg in Hamburg, in der Hohe Straße in Köln hat man nichts gesehen und gehört von den Scheußlichkeiten: also, triumphieren die Völkischen, sind sie nicht da. Muß man sie nicht denen am Kurfürstendamm, am Jungfernstieg, an der Hohe Straße in die tauben Ohren schreien, muß man sie ihnen nicht hinhalten vor die stumpfen Augen, auf daß endlich ihre Sinne wach werden? Ist für einen solchen Zweck sein Zorn nicht eine gute Waffe?
    Am Morgen des andern Tages saß Gustav wiederum auf seiner Bank am Ende der Seepromenade, allein. Die Zusammenhänge sind sonderbar. Wenn er nicht jenes, zugegeben: überflüssige, Manifest unterzeichnet hätte, dann säße er nicht hier, hätte Bilfinger nicht gesprochen, ginge vielleicht herum als einer von jenen, die über den Kurfürstendamm, den Jungfernstieg, die Hohe Straße gehen, blind, taub, Herz und Sinne zu. So hat es ihn hineingerissen, ein Zufall, und doch kein Zufall.
    Kein Zufall. Frischlin hat gesagt, er sei ein »Betrachtender«. Er weiß, was Frischlin gemeint hat. »Der Handelnde ist immer gewissenlos; Gewissen hat niemand, nur der Betrachtende.« Er ist stolz, daß Frischlin ihn einen Betrachtenden genannt hat.
    Der junge Bilfinger hat die »Vorgänge dokumentarisch niedergelegt«, er wird ihm das Schriftstück schicken. Gustavhat körperliche Angst vor diesem Schriftstück. Er hat Angst davor, daß es in seinem Zimmer liegt, in dem kleinen, lächerlichen Hotelschreibtisch. Unten im Diningroom wird Musik gemacht werden, in der Halle getanzt, Leute werden in der Bar sitzen, trinken, flirten, und das Schriftstück mit dem nüchtern grausigen Bericht wird in der Schublade des Schreibtischs liegen.
    Wäre nur erst Johannes Cohen da. Es ist verdammt schwer, das alles allein mit sich abzumachen. Gustav stellt das gelbbraune, hagere, gescheite, höhnische Gesicht seines Freundes vor sich hin.

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