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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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das »Auge Gottes« wandern, links, rechts, links, rechts. Professor Edgar Oppermann, der Arzt, lächelte, ein bißchen ironisch, doch gleichzeitig stolz auf seine ungestüme Tochter. Gina Oppermann aber, die Mutter, eine kleine, unscheinbare Frau, sah verzückt auf Ruth. Ruth schlägt dem Vater nach, sicher einmal wirdsie etwas ganz Großes werden wie er, der große Arzt. Sie ist sehr anders als die Mädchen ringsum. Sie hat nur zwei Interessen: Politik und Medizin. Sie ist Zionistin, sie spricht schon leidlich hebräisch. Sie wird studieren, in Berlin, in London, in Jerusalem, und sich als Ärztin in Palästina niederlassen.
    Gustav Oppermann hat Freude an seiner Nichte Ruth. Er macht sich oft auf joviale Art lustig über ihren Zionismus; aber er findet es gut, daß es in der Familie Oppermann auch diese Schattierung gibt. Wäre ihre Heftigkeit, ihre Dringlichkeit nicht, dann fehlte etwas Wesentliches. Ihr Fanatismus macht sie geradezu schön. Sie ist jung genug, daß man ihr Extravaganzen erlauben darf.
    Die hübsche, blonde, spitznasige Caroline Theiss schaute amüsiert auf das eifrige, unschöne Mädchen. Ellen Rosendorff aber lächelte nicht. Merkwürdige Leute hat sich Gustav Oppermann da zusammengeladen. Ellen Rosendorff, groß, schlank, dunkelhäutig, langäugig, kennt Gustav Oppermann aus dem Tennisclub Rot-Weiß. Sie liebt Gesellschaft, Sport, Flirt; ihre snobistische Art steht in aufreizendem Gegensatz zu ihrer biblischen Erscheinung. Sie hat eine scharfe Zunge, liebt kleine, bösartige Witze. Sie ist eine der jungen Jüdinnen, mit denen der Kronprinz flirtet, und stadtbekannt ist ihre Äußerung, als einmal der Wagen des Prinzen, den er selbst steuerte, knapp einem Unfall entgangen war: »Fahren Sie vorsichtig, Monsieur. Stellen Sie sich vor, wie wir unter dem zerschmetterten Wagen liegen, eine einzige, unkenntliche Masse. Nicht auszudenken: jüdische Gebeine im Potsdamer Mausoleum und hohenzollernsche im Weißenseer Jüdischen Friedhof.« Sie hat auch Gustav Oppermann gegenüber kaum je ihren Ton geändert, sie sprechen über die tausend kleinen Dinge, über die reiche, müßige Berliner sprechen, über nichts sonst. Dennoch ist, was die beiden miteinander bindet, mehr als flüchtiges Wohlgefallen. Er weiß, ihre snobistische Art ist Schutzmaske, in Wahrheit ist sie melancholisch, gequält von der betriebsamen Leere ihres Daseins. Und sie weiß um gewisse ähnliche Eigenschaften von ihm, nur viel vergrabenere,die er nicht wahrhaben will. Jetzt schaut sie auf Ruth Oppermann, ernsthaft, neugierig. Wenn sich jemand nur die Mühe machen will, kann er unschwer Ruth Oppermann in eine mondäne Berlinerin verwandeln, aber es wäre in den meisten Fällen vergeblich, aus mondänen Berlinerinnen Ruth Oppermanns machen zu wollen.
    Professor Edgar Oppermann, der Arzt, stand im Gespräch mit Rektor François vom Königin-Luise-Gymnasium. Edgar, wie alle Oppermanns ein wenig schwer von Leib, aber gleichwohl elastisch, dunkelblond, belächelte die läppische Willkürlichkeit aller Rassentheorien. Wie viele Blutproben hat man gemacht, wie viele Schädel gemessen, wie viele Haare untersucht: immer ohne Resultat. Edgar Oppermann sprach lebhaft, keineswegs dozierend, mit vielen schnellen Gesten; die Hände waren leicht, weniger fleischig als die der andern Oppermanns, die Hände eines großen Chirurgen. »Ich habe nie bemerkt«, schloß er lächelnd, »daß der Kehlkopf eines sogenannten Ariers auf bestimmte Reizungen anders reagiert hätte als der eines Semiten.« Er war nicht Jude, nicht Christ, nicht Semit, nicht Arier, er war Laryngologe, Wissenschaftler, seiner Sache so sicher, daß er nicht einmal Verachtung, Zorn oder Mitleid für die Rassentheoretiker aufbrachte.
    Rektor François stimmte lebhaft zu. Auch er war in erster Linie Wissenschaftler, Philolog. Leidenschaftlicher Liebhaber der deutschen Literatur, seit langen Jahren Mitglied des Bibliophilenvereins, war er mit Gustav Oppermann gut befreundet. Die menschliche Natur, erklärte er, habe sich, seitdem wir Geschichte kennen, nicht verändert. Studiere man etwa die Bewegung des Catilina, dann sei man erstaunt, wie sehr sie selbst äußerlich der völkischen Bewegung gleiche. Genau die gleichen Mittel damals: Sprechchöre, wüste Reden, skrupellose Agitation, übelster Dilettantismus. »Hoffentlich findet sich auch unter uns bald ein Cicero«, schloß er. Der dünne Herr, zarte, rosige Wangen, scharfe, randlose Brille, weißer, gepflegter Knebelbart, sprach

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