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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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ausgerüstet mit dem Wissen der Zeit, gesättigt mit dem Geschmack von Jahrhunderten, ein stattliches Bankkonto hinter sich. Man lächelte darüber, daß jetzt das gezähmte Haustier, der Kleinbürger, androhte, zu seiner wölfischen Natur zurückzukehren.
    Der quicke Prokurist Siegfried Brieger riß Witze über den Führer und seine Bewegung. Der Führer war kein Deutscher, er war Österreicher, seine Bewegung war die Rache Österreichs für die Niederlage, die es im Jahre 1866 durch dieDeutschen erlitten hatte. War es nicht ein unmögliches Unternehmen, den Antisemitismus in Gesetze einzufangen? Wie wollte man feststellen, wer Jude war, wer nicht? »Mich können sie natürlich herauskennen«, sagte behaglich Herr Brieger, auf seine große Nase weisend. »Aber hat sich nicht die Mehrzahl der deutschen Juden so assimiliert, daß es wirklich nur von ihnen abhängt, ob sie sich für Juden erklären oder nicht? Kennen Sie übrigens die Anekdote von dem alten Bankier Dessauer? Herrn Dessauer klingt sein Name zu jüdisch. Ändert er ihn um. Erklärt: von jetzt an bin ich nicht mehr Herr Dessauer, von jetzt an bin ich Herr Dessoir. Trifft Herr Cohn Herrn Dessoir in der Straßenbahn. ›Guten Tag, Herr Dessauer‹, sagt er. Sagt Herr Dessoir: ›Entschuldigen Sie, Herr Cohn, mein Name ist jetzt Dessoir.‹ – ›Pardon, Herr Dessoir‹, sagte Herr Cohn. Zwei Minuten später nennt er ihn wieder Herr Dessauer. ›Entschuldigen Sie: Dessoir‹, korrigiert mit Nachdruck Herr Dessoir. ›Pardon, pardon‹, entschuldigt sich eifrig Herr Cohn. Die beiden Herren verlassen die Straßenbahn, sie haben ein Stück Wegs gemeinsam. Fragt nach ein paar Schritten Herr Cohn: ›Können Sie mir nicht sagen, Herr Dessoir, wo ist hier das nächste Pissauer?‹«
    Herr Jacques Lavendel hatte seine Freude an dieser Anekdote. Der Dichter Friedrich Wilhelm Gutwetter verstand sie zunächst nicht, ließ sie sich wiederholen, lächelte erheitert über sein ganzes, stilles Gesicht. »Im übrigen hat der Herr«, er wies auf Herrn Lavendel, »auf schlichte Art ausgedrückt, was in den Menschen dieses Breitengrads zum Ausbruch drängt. Die Herrschaft der nüchternen Vernunft sackt zusammen. Die läppische Tünche der Logik wird abgekratzt. Eine Epoche dumpft heran, in der das große, partiell überentwickelte Tier Mensch zu sich selber zurückfindet. Das ist der Sinn der völkischen Bewegung. Sind Sie nicht alle glücklich, sie mitzuerleben?« Ruhig drehte er den Kopf mit den strahlenden Kinderaugen im Kreise, die mächtige Krawatte bedeckte den Westenausschnitt, er wirkte in seiner altertümlichen Kleidung wie ein abgeklärter Geistlicher.
    Man lächelte über den Dichter. Er dachte in Jahrtausenden. Sie hier mußten auf kürzere Sicht denken, auf Jahre, auf Monate, und da stellte sich die völkische Bewegung lediglich als plumpe Agitation dar, geschürt von Militaristen und Feudalisten, spekulierend auf trübe Kleinbürgerinstinkte. So sah sie der zynische Professor Mühlheim, der frivol und gescheit darüber scherzte, so, bei aller Vorsicht, die sie als kluge Geschäftsleute trafen, sahen sie die Oppermanns, so sahen sie die Damen Caroline Theiss und Ellen Rosendorff. Bis plötzlich einer der Gäste die angenehme Stimmung des Abends zerriß und, was Jacques Lavendel mit behaglicher Vorsicht, was Friedrich Wilhelm Gutwetter in poetischer Abstraktion ausgedrückt hatte, ärgerlicherweise in die nüchterne Sprache des Alltags übersetzte. Es war das Mädchen Ruth Oppermann, die Siebzehnjährige, die, den ganzen Abend über schweigsam, jetzt plötzlich ausbrach: »Ihr habt alle so ausgezeichnete Theorien, ihr erklärt alles so gescheit, ihr wißt alles. Die andern wissen gar nichts, sie kümmern sich einen Dreck darum, ob ihre Theorien dumm sind und voll Widerspruch. Aber sie wissen eines: sie wissen genau, was sie wollen. Sie handeln. Sie tun etwas. Ich sage dir, Onkel Jacques, und dir, Onkel Martin, sie werden es schaffen, und ihr seid die Gelackmeierten.« Sie stand da, ein bißchen plump, das blaue Kleid hing unschön um ihren Körper, ihre Mutter, Gina Oppermann, verstand nicht, sie anzuziehen, ihre schwarzen Haare wirkten unordentlich, trotz der sorgfältigen Frisur. Aber ihre großen Augen schauten heftig, entschieden aus dem olivbraunen Gesicht, ihre Rede war mehr als die eines Kindes.
    Die andern hatten zu sprechen aufgehört, es war ganz still, als sie zu Ende war, man hörte das laute Geräusch der Uhr, man schaute unwillkürlich hin, man sah

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