Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
warum reißt er denn die Augen so auf? Hilft alles nichts,Herr Doktor. Jetzt hab ich den Faden wieder, jetzt bringen Sie mich nicht mehr aus dem Konzept. »Aber trotzdem«, setzt er an, frisch, kräftig, »dies alles zugegeben …«
Da wird er unterbrochen. Scharf, quäkend, kommt es aus der Ecke: »Nein, nicht zugegeben. Ich gebe das nicht zu. Niemand hier gibt das zu. Ich dulde das nicht. Ich höre das nicht länger mit an. Was denken Sie sich denn, junger Mensch? Was für Leute glauben Sie denn, daß Sie vor sich haben? Hier, vor deutschen Menschen, in dieser Zeit deutscher Notwende, wagen Sie es, die ungeheure Tat, die am Beginn der deutschen Geschichte steht, als nutzlos, als sinnlos zu bezeichnen? Sie geben das zu, sagen Sie. Sie erdreisten sich, die Argumente des ödesten Opportunismus in den Mund zu nehmen, und dann sagen Sie: Sie geben das zu. Wenn Ihnen schon selber jeder Funke deutschen Gefühls abgeht, dann verschonen Sie doch wenigstens uns vaterländisch Fühlende mit Ihren Kotwürfen. Ich verbitte mir das. Hören Sie, Oppermann. Ich verbitte mir das, nicht nur für mich selber, sondern im Namen dieser Anstalt, die vorläufig noch eine deutsche ist.«
Es ist totenstill geworden. Den meisten der Pennäler war in dem warmen Raum das Denken vergangen; sie sind schlaff dagesessen, vor sich hin dösend. Jetzt, bei dem scharfen, anschwellenden Gequäk Vogelsangs, schauen sie hoch, auf Berthold. War es wirklich so schlimm, was der gesagt hat? Und was eigentlich hat er denn gesagt? Es war etwas von Luther und Gutenberg. Ganz begriffen sie den Zorn Vogelsangs nicht, aber wahrscheinlich hat sich Oppermann wirklich ein bißchen übernommen. Man soll in solchen Vorträgen sagen, was in den Schulbüchern steht, nicht mehr und nicht weniger. Es scheint, er hat sich hineingeritten.
Berthold selber, wie Vogelsang ihn unterbricht, ist zunächst tief verwundert. Was will er denn? Warum schreit er denn so? Er soll ihn gefälligst zu Ende sprechen lassen. Bisher war es nicht üblich, daß man den Vortragenden unterbrach. Dr. Heinzius hat es nie getan. Aber der liegt nun in der Erde des Stahnsdorfer Waldfriedhofs. Und der da schreit.Man muß doch die »Einwände« bringen. Man darf sie nicht unterschlagen, man muß sie widerlegen. So haben wir’s gelernt, so steht es in den Regeln, so hat es Dr. Heinzius uns beigebracht.
Ich habe ja nichts gegen Hermann gesagt. Es war doch ein »Einwand«. Ich wollte ihn doch widerlegen. Mein Manuskript liegt vor. Meine eigene Stellungnahme habe ich doch klar gegeben, zu Beginn von Teil B. Er soll doch schon aufhören, er soll doch nicht so schreien.
Ich habe gleich ein schlechtes Gefühl gehabt, wie er mir den »Hermann« vorschlug. Ich hätte beim »Humanismus« bleiben sollen. Heinrich hat es auch gleich gesagt, er ist ein Schwein, es ist pure persönliche Gemeinheit.
Er redet doch lauter Unsinn. Da liegt mein Manuskript, in der Bank, in der Schultasche. Man braucht es nur zu lesen, und man sieht klar wie Kloßbrühe, daß das Schwein lauter Unsinn redet.
Was hab ich denn eigentlich gesagt? Genau weiß ich’s nicht mehr. Im Manuskript war’s nicht. Ich könnte mich trotzdem auf mein Manuskript berufen. Dann sieht jeder, wie es gemeint war.
Ich will mich nicht auf mein Manuskript berufen. Der Hermann war ein oller Indianer, ich kann ihn nicht riechen. Der »Einwand« war richtig. So hab ich’s gesagt, und so ist es.
Er hat die lässige Haltung aufgegeben. Er steht sehr aufrecht, den fleischigen Kopf hoch, die grauen Augen geradeaus. Er läßt die Worte des Feindes auf sich einprasseln.
Der scheint jetzt zu Ende mit seinem Salm. Berthold steht da, nagt mit den großen, weißen Zähnen die Unterlippe. Jetzt müßte er das Manuskript herausziehen und sagen: Was wollen Sie denn, Herr Oberlehrer? Bitte, hier ist das Manuskript. Aber er sagt es nicht. Er schweigt, bitter, verstockt. Die grauen Augen hält er fest den blaßblauen des andern entgegen. Endlich, nach einer ewigen Pause, deutlich, aber nicht laut, sagt er: »Ich bin ein guter Deutscher, Herr Oberlehrer, ich bin ein ebenso guter Deutscher wie Sie.«
Diese ungeheure Anmaßung des Judenjungen verschlägt Dr. Vogelsang für einen Augenblick die Sprache. Dann will er losbrechen. Aber er hat alle Trümpfe in der Hand, er will sie nicht durch einen Temperamentsausbruch verspielen. Er bezwingt sich. »So«, begnügt er sich zu sagen, auch seinerseits nicht sehr laut, »ein guter Deutscher sind Sie? Wollen Sie das gefälligst
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