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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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dem Gefühl unbedingter Bewunderung, das die Befreiungstat des Mannes gerade in einem Deutschen von heute hervorrufen mußte. Diesen Gedankengang wollte Berthold ausführen gemäß den guten alten Regeln, die er gelernt hatte: allgemeine Einleitung, Setzung des Themas, prinzipielle Stellungnahme des Vortragenden; Beweise, Einwände, Widerlegung der Einwände; zum Schluß nochmals, stark betont,die These des Vortragenden. Berthold hatte, was er sagen wollte, bis aufs Komma schriftlich fixiert. Da ihm aber die Worte leicht von den Lippen kamen, hatte er es verschmäht, sein Manuskript mechanisch auswendig zu lernen. Er wollte, sich streng an die Grundlinien haltend, die Formulierung des einzelnen dem Augenblick überlassen.
    Da stand er also und sprach. Er sah vor sich die Gesichter seiner Kameraden, Max Webers, Kurt Baumanns, Werner Ritterstegs, Heinrich Lavendels. Aber nicht für diese sprach er. Nur für sich selber und für den dahinten, den Feind.
    Der Oberlehrer Vogelsang hielt sich hinter Berthold, in seinem Rücken. Er saß stramm da, ließ sich nicht gehen, hörte zu. Berthold sah ihn nicht, aber er wußte, der Blick Vogelsangs war steif auf ihn gerichtet, genau auf seinen Nacken. Unter dem Kragen spürte er die Stelle, wohin der Blick Vogelsangs drang. Es war, wie wenn jemand mit spitzem Finger an diese Stelle stieß.
    Berthold bemühte sich, an nichts zu denken außer an seine Sätze. Gute dreißig Minuten sollte er sprechen. Etwa acht Minuten hatte er hinter sich, die Einleitung war vorbei, das Thema gesetzt, seine These gesetzt, er war bei den »Beweisen«. Da spürte er, wie der Blick Vogelsangs ihn losließ. Ja, Vogelsang erhob sich, sehr leise, um nicht zu stören. Er kam vor, jetzt sah ihn Berthold an der linken Wand erscheinen. Er ging die linke Reihe der Bänke entlang, auf Fußspitzen, mit gemessenen, doch betont vorsichtigen Schritten; Berthold hörte das leise Knarren seiner Stiefel. Vogelsang ging nach hinten, in die Ecke links. Er wollte Berthold vor Augen haben, die Worte aus seinem Mund kommen sehen. Da stand er, hinter der letzten Bank, sehr aufrecht – stützte sich nicht die eine Hand auf einen unsichtbaren Säbel? –, die blaßblauen Augen starr auf Bertholds Mund gerichtet. Berthold, so beobachtet, fühlte sich unbehaglich. Er wandte den Kopf flüchtig dem Lehrer zu, aber der Anblick störte ihn noch mehr. Er sah geradeaus, rückte, wendete den Kopf, als wollte er eine Fliege vertreiben.
    Er führte die »Beweise« zu Ende. Er sprach nicht mehr so gut wie zu Beginn. Es war sehr warm im Raum, die Räume des Königin-Luise-Gymnasiums waren gewöhnlich überheizt, er schwitzte leicht auf der Oberlippe. Er kam jetzt zu den »Einwänden«. Die Tat Hermanns, sagte er, habe, vom Standpunkt nüchterner Vernunft aus gesehen, äußere Folgen auf die Dauer vielleicht nicht gezeitigt; zugeben müsse man, daß die Römer ein paar Jahre später genau da standen, wo sie vor der Schlacht gestanden waren. Ja …
    Er stockte einen Augenblick, wußte plötzlich nicht weiter. Er strengte sich an, sich zu konzentrieren. Im Geist vor sich sah er die schmalen Seiten seines lateinischen Tacitus, die großen Antiquatypen seiner schönen deutschen Tacitus-Ausgabe. Er schaute wieder nach der Ecke links hinten, dort stand Vogelsang, immer unbeweglich, aufmerksam. Berthold öffnete den Mund, schloß ihn, öffnete ihn, sah vor sich nieder auf seine Fußspitzen. Jetzt müssen es schon acht Sekunden sein, daß er nicht weiterspricht. Oder zehn. Was hat er denn zuletzt gesagt? Ja, daß die Tat Hermanns eigentlich keine äußeren Folgen hatte. Keine Frage, Luthers Bibelübersetzung, Gutenbergs Erfindungen waren für Deutschland und sein Ansehen in der Welt bedeutsamer als die Schlacht im Teutoburger Wald. Die Tat des Arminius, das müssen wir zugeben, blieb praktisch ohne Bedeutung.
    Wollte er das so sagen? Das wollte er doch viel vorsichtiger ausdrücken, nicht so schroff, so hart. Nun wenn schon. Weiter, Berthold. Mach Zoff. Nur keine Pause mehr, die erste Pause hat sowieso schon eine Ewigkeit gedauert. Aber jetzt hat er den Faden wieder. Jetzt kann ihm nichts mehr passieren. Von der »Widerlegung« an ist er in Schwung. Eine zweite Pause? Nee, Herr Doktor, is nich.
    Er lächelt schräg hinten in die Ecke, triumphierend. »Aber trotzdem«, setzt er an. Allein was ist denn? Warum verändert sich denn plötzlich das Gesicht Vogelsangs so merkwürdig? Warum läuft denn der Schmiß, der das Gesicht zerteilt, so rot an,

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