Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
andern überlassen, zu bestimmen, wer ein guter Deutscher ist und wer nicht. Ein guter Deutscher.« Er schnaubt verächtlich durch die Nase. Und jetzt, endlich, kommt er vor aus seiner Ecke, aber nicht mehr leise, laut und stramm knarrt jeder Schritt. Geradewegs auf Berthold zu kommt er. Jetzt steht er ihm gegenüber, Aug in Aug mit ihm, und vor der totenstillen Klasse, unter atemloser Spannung, mit gespielter Ruhe und Mäßigung, fragt er: »Wollen Sie sich nicht wenigstens entschuldigen, Oppermann?«
Den zehnten Teil eines Augenblicks hat Berthold von selber daran gedacht, sich zu entschuldigen. Er hat etwas gesagt, was er nicht sagen wollte, hat es obendrein, in einem Augenblick mangelnder Konzentration, schroff und unglücklich gesagt. Warum das nicht zugeben? Dann ist die Geschichte erledigt, er kann seinen Vortrag zu Ende halten, und alle müssen sehen, daß er ein guter Deutscher ist und daß der da ihm unrecht tut. Aber vor dem Blick Vogelsangs, vor seinem widerwärtigen, hochfahrenden, zerteilten Gesicht verflüchtigt sich diese Anwandlung, noch bevor sie recht Gedanke geworden ist.
Die Kameraden alle starren auf Berthold. Die Haltung Vogelsangs hat Eindruck gemacht. Oppermann hat, scheint es, die Schnauze wirklich zu voll genommen. Aber wie immer, klein beigeben darf er jetzt nicht, das wäre unmännlich. Neugierig warten sie, was er tun wird.
Sie stehen, Vogelsang und er, Aug in Aug. Endlich tut Berthold den Mund auf. »Nein, Herr Oberlehrer«, sagt er, immer leise, geradezu bescheiden. »Ich werde mich nicht entschuldigen, Herr Oberlehrer«, fügt er hinzu. Alle sind befriedigt.
Auch Vogelsang ist befriedigt. Jetzt erst hat er gesiegt. Jetzt, durch diese Haltung Oppermanns, hat er Gelegenheit, zu zeigen, wie ein deutscher Schulmann zersetzende Elemente zertritt. »Schön«, erklärt er, »ich nehme das zur Kenntnis, Schüler Oppermann. Setzen Sie sich auf Ihren Platz.«
Berthold geht nach seiner Bank. Sicherlich war es unklug, was er getan hat. Er merkt das an der Haltung des Feindes, an seinen aufblitzenden Augen. Aber wenn er nochmals die Wahl hätte, er machte es genauso. Er kann sich nicht bei diesem Menschen entschuldigen.
Der andere ist fest entschlossen, unter allen Umständen Maß zu halten. Aber er kann sich doch nicht versagen, dem Schüler Oppermann, während der sich unter die andern setzt, zuzurufen, obenhin, aber gerade darum voll Triumph und Hohn: »Vielleicht werden Sie noch einmal froh sein, Oppermann , wenn man sich mit einer solchen Sühne begnügt.« Und: »Wir gehen jetzt an die Lektüre unseres Kleist«, beschließt Bernd Vogelsang leicht und überlegen diese Episode.
Das Gerücht von dem, was sich ereignet hat, verbreitet sich schnell durch die ganze Anstalt. Noch vor Ablauf des Vormittags hat auch Rektor François es erfahren. Er wundert sich nicht, als sich Oberlehrer Vogelsang bei ihm einfindet.
Vogelsang gönnt sich kaum einen mißbilligenden Blick auf die Voltaire-Büste, so erfüllt ist er von dem Geschehen. Allein er bezähmt sich, vermeidet geflissentlich jede Übertreibung, gibt einen exakten Bericht. François hört ihn mit sichtlichem Unbehagen an, streicht sich nervös mit den kleinen, gepflegten Händen den Knebelbart. »Unangenehm«, sagt er mehrere Male, nachdem Vogelsang zu Ende ist, »außerordentlich unangenehm.«
»Was gedenken Sie gegen den Schüler Oppermann zu unternehmen?« fragt Vogelsang gemessen.
»Der Junge ist gewissenhaft«, meint Rektor François, »zudemam deutschen Aufsatz und an seinen Vorträgen interessiert. Er hat sicher sein Manuskript sorgfältig ausgearbeitet. Vielleicht sollte man dieses Manuskript erst einsehen, bevor man ein endgültiges Urteil fällt. Wahrscheinlich liegt ein Lapsus linguae vor. Ist das der Fall, dann bräuchte man wohl, bei aller Würdigung Ihrer Motive, Herr Kollege, eine solche rednerische Entgleisung nicht allzu streng zu beurteilen.«
Vogelsang zog die Brauen hoch, befremdet. »Ich glaube, Herr Rektor, man kann den Fall nicht streng genug beurteilen. In einer Zeit, da der Schmachfriede, das Versailler Diktat, sich am wüstesten auswirkt, erfrecht sich ein junger Bursche, eine der hehrsten deutschen Taten durch platte rationalistische Kritik zu zersetzen. Während wir deutschen Menschen, wir bewußt Nationalen vornean, um den Wiederaufstieg des Volkes so über alles Maß schwer zu ringen haben, verhöhnt ein Schüler, ein Knabe, die Anstrengungen, mit der unsere Ahnen ihre Ketten sprengten. Ihrem Voltaire
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