Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
entschuldigte sich. Der Summer sei kaputt.
Haschpapi, dachte Carina, und der Kloß in ihrem Hals löste sich in Tränen auf. So hatte sie ihn als Kind genannt, als er noch bei der Drogenfahndung gewesen war. Er breitete die Arme aus, Carina fiel hinein.
»Ich hab dich wieder«, flüsterte er und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. Er schien kleiner geworden zu sein. Sein Topfschnitt glänzte silbern, und mit den Tränensäcken ähnelte er wirklich dem Hush-Puppies-Hund. Nachdem er vor zwei Jahren zu weit gegangen war und ihren Geliebten überprüft hatte, war sie ohne ein Wort abgehauen. Erst zu Lars nach Düsseldorf und dann mit ihm zusammen nach Mexiko-Stadt. Wanda, die als Einzige wusste, wo sie sich befand, aber eisern dichthielt, schrieb irgendwann eine SMS , dass ihr Vater kurz davor sei, Carina über Interpol suchen zu lassen. Erst dann meldete sie sich wieder bei ihren Eltern.
Keinesfalls wollte sie ihrem Vater die Genugtuung geben, mit Lars Recht gehabt zu haben. Einzig und allein die Stelle im Institut, bei der genau sie als Spezialistin angefordert wurde, war der Grund, dass sie nach München zurückgekehrt war. Das würde sie ihm alles mitteilen, später, wenn Haschpapi sie nicht mehr so traurig ansah. Sie biss sich auf die Lippen, schluckte und stieg hinter ihm die Treppe hinauf.
Im Flur stand ihre Mutter. Sie trug eine dicke Schicht zu helles Make-up um die Augen herum, als hätte sie den Sommer über eine große Sonnenbrille getragen. »Was bin ich froh. Dein Vater war kurz vor einem Nervenzusammenbruch.« Sie übertrieb maßlos. Matte Kyreleis drehte wegen gar nichts durch, er saß alles aus. Unter dem Einfluss seiner legendären Geduld wurde noch der abgebrühteste Täter weich wie Butter. Ihre Mutter drückte sie kurz, zuckte dann zusammen und schob sie weg. »Es blutet schon wieder, und irgendwas tobt da drinnen.« Sie hielt sich ein Taschentuch unter die Nase. »Der Schmerz zieht bis in die Zehen. Kannst du mal einen Blick darauf werfen, Carina?«
Sie schob ihre Mutter unter die Flurlampe, untersuchte die blau-rote Schwellung auf dem Nasenrücken. »Drückt das auch nach innen?«
»Autsch.«
Sie hatte Silvias Nase nur leicht berührt.
»Das rechte Nasenloch ist praktisch zu.« Nach einer Weile ließ die Blutung nach. Ihre Mutter atmete auf. »Deshalb hat man ja zwei Nasenlöcher!«
»Hast du Sehstörungen?«
»Eigentlich nicht. Meine Lesebrille ist immer noch dieselbe.« Carina tastete ihre Lymphknoten ab. Sie fühlten sich leicht vergrößert an. »Kannst du schlafen?«
»Wenn ich mal dazu komme.« Was für eine Frage, sie hatte ihre Mutter nie anders als müde erlebt. Als selbstständige Hebamme betrieb Silvia Kyreleis in München zusammen mit drei Kolleginnen ein Geburtshaus, versorgte ihre Schwangeren hingebungsvoll, wurde oft nachts zu Geburten gerufen. An sich selbst dachte sie zuletzt.
»Heißt das, du warst nicht beim Arzt, hast gewartet, bis ich komme?«
Silvia lächelte gequält. »Wir könnten übrigens noch eine Kinderärztin im Team gebrauchen«, nuschelte sie, das Taschentuch immer noch unter die Nase gepresst. »Du hast doch Kinder immer so gemocht.«
»Mama, ich bin keine Ärztin für Lebende.« Carina stöhnte. Das alte Lied. Wann ihre Mutter zum ersten Mal auf diese Idee gekommen war, wusste Carina nicht. Nur weil sie während des Studiums einmal als Babysitterin gearbeitet hatte. Aus ihrer Mutter wäre eine gute Kinderärztin geworden, das ja. Fremde Kinder waren ihr immer wichtiger gewesen als ihre eigenen Töchter.
»Kannst du nicht umsatteln? Es reicht, dass dein Vater mit Gewalt und Leichen zu tun hat, tagein, tagaus.« Silvia wand sich aus Carinas Händen. »Lasst uns endlich essen, sofern nicht sowieso schon alles verkocht ist.«
Carina half die Schüsseln ins Esszimmer tragen und stellte die angebrannten Rouladen und das Blaukraut auf den festlich gedeckten Tisch. Für sie hatte Silvia extra Sojawürstchen gebraten.
»Oder isst du wieder Fleisch?«, fragte Silvia in der Küche, schaltete den Ofen ab und bat Carina, auch noch eine Flasche Wasser mitzunehmen. Tote Tiere waren für Silvia anscheinend kein Problem. Carina brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass sie keinen optischen Wurstersatz brauchte; sie war froh, dass es noch keine Tofurouladen gab.
Es klirrte, und Wanda fing an zu schimpfen. Der Hüpfball sprang ihnen aus dem Esszimmer entgegen. Zwischen zerbrochenem Geschirr, unter der halb heruntergerissenen Tischdecke, hockte Sandro und schob
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