Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Neptunbrunnen, nicht weit von der Torkammer, in die er Carina eingesperrt hatte, hatte Dimitri versucht, sich selbst zu ertränken. Neben dem Leichnam seiner Mutter war er aus dem Wasser gezogen und lange reanimiert worden. Wie weit sein Gehirn geschädigt war, stand noch nicht fest.
Es raschelte. Ihr Vater betrat mit einer Plastiktüte den Seziersaal. Er humpelte und konnte noch nicht schmerzfrei sitzen, aber er weigerte sich zu Hause zu bleiben. Die Vernehmungen mit Krallinger, der am Flughafen geschnappt worden war, wollte er sich keinesfalls entgehen lassen.
Seine Haschpapi-Augenringe waren noch schlaffer geworden – vielleicht auch aus Sorge um Silvia. Sie wollte sich ihren Nasentumor nicht operieren lassen, dokterte stattdessen lieber selbst homöopathisch an sich herum.
»Schlechte Nachrichten«, verkündete er.
Carina fuhr herum. »Ist was mit M… äh Silvia?« Ihre Krebsdiagnose bildete einen unverrückbaren Schutzschild gegenüber der längst fälligen Aussprache zwischen Carina und ihr.
»Nein, ich meine Krallinger. Das BKA hat ihn abgeholt, war ja zu erwarten.« Er lehnte sich an einen freien Stahltisch. »Sie wollen angeblich selbst klären, was mit ihm geschieht. Na ja, das meiste konnte ich rausfinden. Das Projektil, das du entdeckt hast, und das andere, das sie aus mir herausgefischt haben, sind identisch. In seinem Schlafzimmer in Feldafing muss es damals eine Schießerei gegeben haben. Nicht zwischen Rosa und Wennwirkurti, wie wir gedacht haben, sondern zwischen Julia und ihm. Bei einem Streit hat Rosa, laut Kurti, seine Geliebte erschlagen. Doch die lebte noch und hat ihn mit einer Waffe bedroht, als er nach der Inszenierung beim Innenministerium, wo Rosa als verkleidete Julia Herbig floh, nach Feldafing zurückkehrte. Sie hat ihn beschimpft: Nur wegen ihm hätte sie Rosa hergelockt und sei jetzt fast daran verreckt. Da hat er sie offenbar in Notwehr erschossen und aus Angst um seine Stellung beim BKA in der Isar versenkt. Wenn du die Sache nicht wieder hervorgeholt hättest, wäre auch alles andere nie ans Licht gekommen. Er hat tatsächlich die Akte aus deiner Wohnung gestohlen.« Er machte eine Pause. »Die Ermittlerstelle bei uns ist übrigens noch frei.«
»Papa!«, ermahnte ihn Carina.
»War nur Spaß, aber du hattest Recht, so einfach, ohne Gegenleistung für die Staatssicherheit, kam man vor der Wende nicht über die Grenze. Krallinger war ein DDR -Spitzel, seine ganze Zeit bei der Münchner Polizei über. Und später sollte er als Fachmann für das Bundeskriminalamt die Westspioninnen aufspüren. Aber die Öffentlichkeit wird wohl nie erfahren, dass Krallinger bei dem Herrhausen-Attentat im vorausfahrenden Begleitwagen saß. Dann müsste das BKA ja vor der eigenen Türe kehren. In der Terrorbekämpfung gegen die angebliche RAF ist da nicht alles so sauber gelaufen, wie sie es der Öffentlichkeit weismachen wollten.« Er seufzte. »Zeit, das abzuhaken. Aber nun zu dir.« Wie der Nikolaus die Glocke schwenkte er die grüne Plastiktüte. »Ich hab dir was mitgebracht, von Luise Salbeck.«
Carina konnte es kaum glauben. Ihr Skizzenbuch. Es hatte weder Rußflecken, noch war es vom Löschschaum gewellt. Dabei war Dimitris Gesichtersammlung in der Kammer völlig ausgebrannt.
»Du hast es im Glaspalast liegen lassen, schau nach, ob alles drin ist.«
Sie zog die Handschuhe aus und schlug es auf. Ein paar vergilbte Polaroidfotos lagen darin. Carina als Baby in den Armen einer fremden Frau.
Das Gesicht ihrer Mutter.
Nachwort
Das Attentat auf Alfred Herrhausen am 30. November 1989 in Bad Homburg ist bis heute ungeklärt. Ob der Vorstandssprecher der Deutschen Bank von RAF -Terroristen ermordet wurde und ob diese sogenannte »dritte Generation« der RAF überhaupt existierte, ist nicht bewiesen. In den vergangenen zwanzig Jahren wurden Zeugen als unglaubwürdig entlarvt, Verdächtige freigesprochen, Spuren verworfen. Spekulationen, die Staatssicherheit der DDR hätte drei Wochen nach der Wende solch einen Terroranschlag geplant, versandeten.
Die Autoren Gerhard Wisnewski, Wolfgang Landgraeber und Ekkehard Sieker zeigen alle Ungereimtheiten in ihrem Buch »Das RAF -Phantom« auf.
Ähnlich gesichtslos wie die Herrhausen-Attentäter blieben die »Romeo«-Agenten: Männer, die von der Staatssicherheit der DDR dazu ausgebildet wurden, Liebhaber westdeutscher Mitarbeiterinnen in Sicherheitsbehörden oder Bundesministerien zu werden, um über sie an Dokumente und Geheiminformationen zu
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