Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Gepäckhalle gegangen. Nur ruhig, hatte sie sich zugeredet, wenn sie während des Fluges aus dem Schlaf aufschreckte, das hier ist kein Auto. Zum Glück schien sie nichts geträumt zu haben, jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern. Sie wischte den letzten Rest mexikanischen Straßenstaubs mit dem Saum ihres Shirts von der Brille und setzte sie wieder auf. Bienvenida la urraca. La urraca , so wurde sie von den lateinamerikanischen Kollegen genannt: die Elster, der Totenvogel. Von der mexikanischen Regenzeit in den goldenen Münchner Herbst.
Ihr Handy vibrierte. Wahrscheinlich steckte Wanda im Stau fest. Doch die SMS war nicht von ihrer Schwester.
Bin auch wieder in Deutschl., wir müssen uns sehen, vermisse dich, Lars , stand auf dem Display. Bevor sie sich aufregen konnte, stürmte Wanda herbei und umarmte sie völlig außer Atem. Carina freute sich, sie zu sehen. Noch immer war ihre Schwester in viel zu enge, pastellfarbene Klamotten gepresst. Ihre Hochsteckfrisur mit Fliegenpilz-Haarspangen, die noch aus ihrer Kindheit stammten, hatte sich aufgelöst. Blonde Locken umkringelten ihr verschwitztes Gesicht.
Plötzlich sprang im Café nebenan eine Frau kreischend von einem Stuhl auf. In ihrer einen Stiefelette steckte der Arm eines kleinen Jungen. Wanda hastete hinüber und zerrte Sandro wie einen widerspenstigen Hund unter dem Tisch hervor. Kein Wort der Entschuldigung gegenüber der fremden Frau, die fassungslos über eine große Laufmasche in ihrer Strumpfhose strich.
»Deine Tante ist da«, rief Wanda stattdessen übertrieben laut. »Endlich kann sie mit dir mal was unternehmen.«
Carina bückte sich, um ihren Neffen zu begrüßen. Sandro gab ihr die linke Hand, mit der rechten umklammerte er den wiedergefundenen kleinen Hüpfball.
»Ich habe ihm extra noch die Haare geschnitten.« Wanda zupfte an dem sehr kurzen Pony ihres Sohnes herum.
Ach ja, dachte Carina, die abgebrochene Friseurlehre. Seitdem schnitt Wanda nicht nur ihrem Sohn, sondern auch ihrem Vater die Haare. Den berühmten Kriminalhauptkommissar Matthias Kyreleis erkannte man auf den Zeitungsfotos vor allem an seinem Topfschnitt.
»Hast du mir was von den Indianern mitgebracht?«, fragte Sandro.
Das hatte sie. Sorgenpüppchen, kleine mit Stoff umwickelte Stöckchen in einem Beutel. »Wenn du mal nicht einschlafen kannst, weil du was Blödes erlebt hast, kannst du deinen Kummer den Püppchen erzählen und steckst sie unters Kopfkissen. Dann übernehmen sie über Nacht das Grübeln, und du träumst was Schönes.«
Sandro maulte, er hätte lieber ein Kriegsbeil gehabt.
Im Kofferraum von Wandas altem Kombi fand Carina kaum Platz für ihre Reisetasche, so zugemüllt war das Auto. Es kostete sie einige Überwindung, überhaupt einzusteigen. Sie hatte gehofft, sie würden mit der S-Bahn in die Innenstadt fahren. Seit ihrem Unfall in Mexiko-Stadt mied sie Autos. Mit einem Regenschirm und einer Maxipackung Klopapier zwischen den Beinen zwängte sie sich auf den Beifahrersitz.
»Heute Nachmittag ist Flohmarkt in Riem, hast du Lust mitzukommen?«, fragte Wanda. »Unser Hausflohmarkt letzten Samstag hat überhaupt nichts gebracht, seitdem fahre ich auch noch die Sachen von meiner Nachbarin spazieren.«
»Ich weiß nicht.« Carina zögerte. »Ich will später erst mal in meine Wohnung. Es hat doch alles geklappt mit dem Unterschreiben?«
»Schon.« Wanda zögerte. »Der Vermieter hatte ja deine Daten, und ich habe mich als deine Schwester ausgewiesen. Aber …«
Carina ahnte, was jetzt kam. Sie hatte Wanda inständig gebeten, ihrem Vater nichts von der neuen Wohnung zu sagen. Als Leiter der Münchner Mordkommission fand er es ohnehin schnell genug heraus. »Papa weiß es, oder?«
»Natürlich nicht, was denkst du von mir«, rief Wanda entrüstet. »Ich hab dichtgehalten, war doch so ausgemacht. Er glaubt, du wohnst bei mir. Deshalb strengt er sich auch so an, über seine Polizeispezis oder andere Schleichwege die richtige Bleibe für dich zu finden.« Sie lachte auf. »Macht Spaß, den Starermittler auszutricksen. Dass seine Lieblingstochter in meiner Unordnung hausen muss, ist ein ziemlicher Ansporn für ihn.«
»Hör auf mit deiner Eifersucht.« Ihr ewiges Thema; bei nur einem Jahr Altersunterschied waren sie meist wie Zwillinge behandelt worden, aber manchmal hatte Carina die Vernünftigere zu sein und Wanda das Nesthäkchen, je nachdem wie es ihre Eltern gerade brauchten. Doch mit dreißig und einunddreißig musste endlich mal Schluss sein.
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