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Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen

Titel: Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephanie Fey
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drin. Das Lexikon war viel benutzt worden, einige Seiten umgeknickt und mit Leuchtstift markiert. Carina verharrte an einem markierten Bild, mit Pfeilen und Händen wurde ein Wort dargestellt. Der Zeigefinger gestreckt, Daumen und die übrigen Finger bilden den Bauch des Buchstabens »D«. Das Wortbild war eingekreist, Herzen und Schmetterlinge waren darum gemalt.
    »Gab es in Maries Freundeskreis jemanden, der stumm oder gehörlos war?«, fragte Carina und zeigte Matte den Eintrag im Lexikon. Herr Preuss verneinte.
    »Hatte sie einen Freund?«, wagte sie sich vor.
    »Das habe ich doch schon beantwortet.« Er strich die Bettdecke glatt, die keine einzige Falte warf.
    Jetzt versuchte es Matte. »Schwärmte sie heimlich für jemanden? Oder … nennt man das heute noch so?« Er warf Carina einen flehenden Blick zu. Sie ignorierte ihn genervt. Er hielt sie hin mit irgendetwas Unaussprechlichem. Was konnte so geheim sein, dass er es nicht endlich sagte, sondern dermaßen herumdruckste? Sie blätterte weiter in dem Buch.
    »Mit siebzehn schwärmen Mädchen doch immer für irgendjemanden, ihren Lehrer, einen Popstar, den Jungen aus der Nachbarschaft«, versuchte er es weiter.
    Herr Preuss lehnte sich ans Fensterbrett und verschränkte die Arme. »Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. So was interessiert Marie nicht. Meine Frau fragt sie oft, ob sie mal ausgehen will und ob es da jemanden gibt, den sie mag oder toll findet. Wir würden uns freuen, wenn sie jemanden mitbringt.« Noch immer gab es kein »war« für ihn, er hielt Marie mit Worten am Leben. »Meine Tochter ist beliebt, aber sie mag das Alleinsein. Partys, den Führerschein machen, das will sie alles nicht. Sie jobbt als Babysitterin und spart für Nepal. Manchmal kommt eine Freundin her, sie lernen zusammen, ich höre sie lachen.« Seine Lippen zitterten. »Aber sie sitzt auch gerne allein dort unten. Schauen Sie.« Er wandte sich um, winkte sie näher. Zwei Bänke ohne Rückenlehne, eine demolierte Rutsche und ein altmodisches Klettergestell standen im Innenhof. Der Sandkasten war zugewachsen, nur noch eine morsche Einfassung im Gras. »Dort unten sitzt sie oft, liest oder spielt mit den Kindern. Sie will Erzieherin werden.« Er nahm Carina das Buch aus der Hand und stellte es ins Regal zurück.
    »Können wir vielleicht Maries Zimmer sehen?«, fragte sie.
    Herr Preuss blickte auf. »Aber das ist doch ihr Zimmer. Genauso wie sie es jeden Morgen verlässt. Sie versucht ohne den ganzen Konsum auszukommen, ›minimal‹ nennt sie es. Bei jedem Ding überlegt sie, ob es zum Le…« Er stockte, schluckte, starrte wieder zum Fenster hinaus, als säße seine Tochter wirklich im Innenhof und gäbe ihm die Kraft weiterzusprechen. Er holte Luft. »Ob es notwendig ist. Neuerdings verzichtet sie sogar auf Seife.« Er lächelte. »Ein ewiges Streitthema zwischen ihrer Mutter und ihr. Meine Frau ist Kosmetikerin. Schade, dass Marie nicht mehr Klarinette spielt. Sie hat sie verkauft und will das Geld für die Reise verwenden. Neun Jahre Unterricht wirft sie weg wie nichts.«
    Die abgenutzten Schneidezähne, das war also die Erklärung dafür. Entweder hatte sie allzu verbissen Klarinette geübt oder die falsche Technik angewandt.
    Er starrte wieder zum Fenster hinaus. »Der Straßenmusiker, mit dem ich sie manchmal dort unten sehe, ist nur eine Zufallsbekanntschaft, sagt sie.«
    »Was für ein Straßenmusiker?« Matte war genauso hellhörig geworden wie Carina. »Den haben Sie vorher nicht erwähnt.«
    Herr Preuss schien durch sie hindurchzuschauen. »Aber ich finde ihn noch, habe schon in der Fußgängerzone nach ihm gesucht, sogar in anderen Städten.« Er zog eine Liste mit lauter Städtenamen aus der Hosentasche, die Hälfte war bereits durchgestrichen. »Nach der Beerdigung mache ich weiter. Und wenn ich bis nach Kathmandu fahre.«
    »Wann haben Sie ihn mit ihr beobachtet, wissen Sie das noch?«, fragte Matte.
    »Etwa zwei Wochen bevor … es passiert ist. Ich habe Geräusche im Hausgang gehört und Licht gemacht, da ist er durch die Tür verschwunden.«
    »Wieso dachten Sie, er sei Musiker?«
    »Weil er so einen alten Geigenkasten dabeihatte, und als Marie allein nach oben kam, hab ich gefragt, warum sie ihren Freund nicht mit raufgebracht hat. Da sagte sie, sie hätte ihn vorhin erst in der Fußgängerzone kennengelernt, weiter nichts.« Seine Mundwinkel zuckten. »Sie hat sich Tschaikowskys Streichquartette von mir ausgeliehen und sie die ganze Nacht gehört. Ich

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