Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Margerite, eine Gerbera, eine Rose, ein Aspidistra-Blatt, eine Passionsblume und eine Lilie. Wir hatten ziemlich viel Stress, wie immer am Wochenende, und dann kam kurz vor Ladenschluss dieser junge Mann herein.« Sie zupfte mit von Pflanzensaft verfärbten Fingerkuppen an einem eingerissenen Fingernagel. »Ich dachte zuerst, der will eine Abfallblume geschenkt kriegen – so nennen wir die halbverwelkten, die sowieso aussortiert werden. Für seine Freundin als Mitbringsel oder so. Samstags kommen oft Kinder oder Rentner aus der Nachbarschaft und holen sich welche. Ich wollte ihm irgendeine geben, aber da zog er aus jedem Eimer eine bestimmte Blume heraus. Ganz schön dreist, habe ich gedacht, ihn aber machen lassen. Es hatte was, wie er die Blumen auswählte, sie in der Hand drehte und gegen das Licht hielt. Manch eine steckte er dann wieder zurück und nahm eine andere.« Sie klopfte sich mit den Fingern auf den gespitzten Mund und sah zum Fenster hinaus.
Carinas Vater warf ihr einen kurzen Blick zu. Jetzt nur nicht unterbrechen, das kann alles verderben, bedeutete er ihr mit den Augen. Die Zeugin war in Gedanken beim vergangenen Samstag und Carina bis aufs Äußerste gespannt.
»Auf wie viel soll ich die Gladiolen kürzen?«, krähte eine Mitarbeiterin aus dem Nebenraum.
»Gar nicht, nur anschneiden, hab ich doch gesagt«, rief Frau Muth und stapfte in den Nebenraum.
»Aber das Grünzeug ist zu kurz dafür.«
Die Floristin schimpfte. Eine ähnliche Standpauke hatte sich auch Carina gerade von ihrer Chefin abgeholt.
»Erstes Lehrjahr«, sagte Frau Muth, als sie zurückkam. »Wo war ich?«
Carina wollte den Mund aufmachen und ihr auf die Sprünge helfen, doch ihr Vater hob unterhalb des Tresens, nur für sie sichtbar, beschwichtigend die Hand.
Frau Muth steckte sich eine gelöste Haarsträhne in den Pferdeschwanz. »Ja genau, der junge Mann, Anfang zwanzig, schätze ich, kaum älter als mein Lehrmädchen, aber der verstand was von Blumen auf eine Weise, wie ich es noch nie erlebt habe. Sehr wählerisch drehte er jede einzelne, als hätten sie Gesichter und sprächen mit ihm. Aber das Eigenartigste … und das war auch der Grund, warum ich mich ihm trotz des Chaos hier voll und ganz gewidmet habe … « Sie stockte, strich sich die Schürze über ihrem knochigen Leib glatt. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Jeder Kunde hat bei uns das Recht auf Service, aber … « Sie holte Luft. »Er sprach nicht, kein Wort. Ich weiß nicht, ob er behindert war oder keine Lust zum Reden hatte, soll es ja auch geben, mein Mann zum Beispiel … «
»Er machte Ihnen also ohne Worte verständlich, welche Blumen er für den Strauß haben wollte.« Matte lenkte sie sanft in die richtige Bahn zurück. »Und deshalb erinnern Sie sich an ihn?«
»Das allein wär’s vielleicht nicht gewesen. Manchmal geht es hier ganz schön zu, so dass wir uns untereinander nur noch mit Gesten verständigen, und wir haben immer wieder Kunden mit Behinderungen, doch selten ist ein Musiker dabei.«
»Ein Musiker?« Carina konnte sich nicht mehr beherrschen. Wandas Nachbarin hatte ihre Schwester auch mit einem Musiker gesehen.
»Ja. Er trug so einen abgegriffenen Geigenkasten, und deshalb habe ich ihm auch Rabatt gegeben.«
»Es ist zwar eine Woche her, aber würden Sie trotzdem versuchen, zusammen mit einem Kollegen ein Phantombild zu erstellen?«, fragte Matte, das Handy schon am Ohr.
Es nieselte. Carina zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch, kaum dass sie wieder auf der Straße standen. Sie wollte sofort zur U-Bahn und Frau Dornbeck fragen, wieso sie Wandas Liebhaber für einen Musiker gehalten hatte.
»Ich will mir nochmal Maries Sachen durchsehen«, sagte ihr Vater.
»Maries Leichnam ist zur Beerdigung freigegeben, das kannst du den Eltern gleich sagen.«
»Begleitest du mich?« Haschpapi bettelnd im Regen.
»Wozu?«
»Vier Augen sehen einfach mehr.« Er hielt ihr die Beifahrertür seines Dienstwagens auf. Sie überlegte kurz. Was sie in ihrer Mittagspause machte, blieb ihr überlassen und ging Feininger nichts an. Und Frau Dornbeck konnte sie auch anrufen.
Sie stieg ein. Seit dem Unfall saß sie innerhalb weniger Tage ständig in irgendeinem Auto, aber vielleicht war das ja besser, als lange nachzugrübeln oder es angestrengt zu vermeiden. Auf der Fahrt lehnte sie sich aus dem offenen Fenster und hielt ihr Gesicht in den Regen.
»Gib mir die Mütze aus dem Handschuhfach, mir ist kalt«, bat ihr Vater an der nächsten
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