Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Bundeskriminalamts.
Neben Videokassetten hatten sie auch hin und wieder ein paar Bücher im Drogerie-Sortiment. Das dicke Heiligenlexikon half ihr nachts beim Einschlafen. Die Visionen und Qualen frühchristlicher Männer und Frauen entführten sie in andere Welten. Den Rest ihres Lebens auf einer Säule zu verbringen, wäre auch eine angemessene Buße für Rosa gewesen. Harte Schicksalsschläge hatten die Heiligen, ohne mit der Wimper zu zucken, ertragen, sich selbst ihr Leben noch zusätzlich erschwert, sich gegeißelt und allem Luxus entsagt. Wenn sie tagsüber die Schminkutensilien im Laden einräumte, dachte sie an die heilige Dorothea, die in Öl gesiedet worden war und glaubte, man salbe sie mit Balsam. Als man sie an den Füßen aufhängte und auspeitschte, frohlockte sie, weil sie glaubte, man streichelte sie mit Pfauenfedern.
Die Deggendorfer akzeptierten Rosa alias Regina Sommer mit den Jahren. Sie grüßten sie und tuschelten manchmal hinter ihrem Rücken. Was sie nicht selbst aufschnappte, berichtete ihr Gaby mit einem Grinsen. Alleinstehend sei sie oder eine Sitzengelassene, aus Köln oder Düsseldorf sollte sie stammen, da sie ja Schriftdeutsch sprach. Manche hielten sie sogar für eine Französin, der Frisur wegen, die der von Mireille Mathieu so glich. Oder war sie es gar? Man sah die Sängerin ja kaum noch im Fernsehen. Vielleicht war ihr Akzent nur Show gewesen, und der »Spatz von Avignon« stammte eigentlich aus Bayern, war nach ihrem Karriereknick hier untergetaucht. Es fehlte bloß noch, dass einer ein Ständchen verlangte oder ein Autogramm.
Sie räumte die Babynahrung um, sortierte die abgelaufenen Gläschen aus.
»Und, was sagen Sie?« Die Bibliothekarin, die sie wegen einer Haartönung beraten hatte, führte ihr die kastanienbraun glänzende Frisur vor; genau denselben Farbton hatte Rosa auch für sich gewählt. »Ich bin damit zufrieden, vielen Dank für Ihren Tipp. Die Tönung kleckst nicht, Sie glauben ja nicht, wie mein Bad vorher ausgeschaut hat.« Sie steckte ihr eine Karte zu. »Hier, damit Sie mal ein paar Bücher mit nach Hause nehmen können. Auch von der Fernleihe, wenn Sie wollen. Wir haben Zugang zu allen bayerischen Landesbüchereien, sogar zur Bayerischen Staatsbibliothek.«
»München« versetzte Rosa einen Stich, sie drückte sich auf den Bluterguss am Ellbogen, um die Erinnerungen auszusperren. Ohne ihre wahre Identität preiszugeben, erhielt sie einen Bibliotheksausweis. Es war also aufgefallen, dass sie in den freien Stunden in der Stadtbücherei die Tageszeitungen durchstöberte. Aber so sehr sie auch in den Meldungen suchte, nie fand sie etwas über sich.
Von den Grübeleien lenkten sie am besten ihre Nachforschungen im Fall Herrhausen ab. Sie verfolgte die Artikel im Spiegel , sammelte Stichpunkte auf einem Block und verglich ihre Notizen mit den geschmuggelten Dokumenten aus dem Innenministerium. Anfangs verstand sie gar nichts. Sitzungsprotokolle, Berichte von Überwachungsaktionen, ein Bekennerschreiben der »Rote Armee Fraktion«, mit dem Maschinengewehr in diesem Stern.
Ihr Hirn schien sich zu verknoten. Devisen, was war das nochmal? Aus einem Lexikon schrieb sie sich die Grundbegriffe heraus, fing im Jugendbuchregal an, las sich durch politische Einführungen, Zusammenfassungen und Biografien. Inzwischen wusste sie alles über Herrhausens Leben, seine Pläne und Visionen. Der mächtigste Mann der Deutschen Bank war er gewesen, Berater des Bundeskanzlers. Zuletzt wollte er den Entwicklungsländern die Schulden erlassen und die DDR reformieren. War das der Grund für den Mord an ihm gewesen?
»Was steht da?« Eine Kinderstimme. Sie erschrak. Ein Mädchen mit abstehenden Pinselzöpfen und Zahnspange drängte sich zwischen den Bücherbergen auf ihren Schoß und hielt ihr ein Kinderbuch unter die Nase. Rosa bemerkte erst jetzt, dass sich eine ganze Grundschulklasse zwischen den Regalen und rund um die Tische verteilt hatte. Sie wollte die Kinder ausblenden, den Duft des Mädchens nicht einatmen. Sie musste sich zwingen, nicht aufzuspringen und das Kind herunterzuschubsen.
»›Im Wald sind keine Räuber‹«, las sie. »Peter stieß das Holzschwert ins Sofa und eine kleine weiße Feder kroch aus der Füllung hervor. ›Im Wald sind keine Räuber …‹ Hinten in der Ecke stand das Puppenhaus, das Mama gehört hatte, als sie klein war. Es war ein sehr schönes Puppenhaus, da gab es unten eine Küche und ein Esszimmer und im oberen Stockwerk ein Schlafzimmer
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