Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
habe schon gehofft, sie hätte zu ihrer Musik zurückgefunden. Nepal, das ist doch viel zu weit weg.« Er wandte sich an ihren Vater. »Würden Sie wollen, dass Ihre Tochter so weit von Ihnen fort ist?«
Matte räusperte sich. »Können Sie den Musiker beschreiben oder würden Sie ihn auf einem Phantombild womöglich wiedererkennen?«
»Ich glaube nicht, ich habe ihn ja kaum gesehen, nur seinen dunklen Haarschopf von hier oben, als sie auf dem Spielplatz saßen. Sie haben sie auch auf einem Spielplatz gefunden, stimmt’s?« Er hatte angefangen, von Marie in der Vergangenheit zu sprechen. Mit Tränen in den Augen blickte er auf Carina hinunter. »Gibt es was Schlimmeres, als sein eigenes Kind zu begraben?«
Auf dem Weg zum Auto erzählte sie ihrem Vater, dass Wandas Nachbarin einen Musiker bei ihr gesehen hatte. »Vielleicht hatte der auch einen alten Geigenkasten dabei, wie der Typ bei der Floristin und der hier bei Marie.«
»Ein stummer Straßenmusiker als Serienmörder? Du meinst, Wanda ist sein nächstes Opfer?« Er stellte den Polizeifunk ab, der sich automatisch mit dem Drehen des Zündschlüssels einschaltete.
»Wie lange willst du noch mit der Fahndung warten?«
Er tätschelte ihr den Arm. »Deine Schwester ist erwachsen und hat das Recht zu tun, was sie will.«
Sie schlug seinen Arm weg. »Ach, Wanda hat das Recht zu tun, was sie will? Und was ist mit mir?« Sie merkte selbst, wie kindisch das klang. Dabei hatte sie immer gedacht, nur Wanda sei auf sie eifersüchtig. Prompt lächelte ihr Vater, was sie noch mehr in Rage versetzte. »Wenn ich mich von Mexiko aus nicht gemeldet hätte, hättest du mich doch auch zur Fahndung ausgeschrieben, oder?«
»Carina.«
Sie verdrehte die Augen, jetzt packte er wieder sein Haschpapigetue aus.
»Deine Schwester weiß, dass wir uns um Sandro kümmern. Lass uns noch bis morgen warten, ja? Aber ich befrage die Nachbarin, ich zeige ihr und Herrn Preuss das Phantombild, einverstanden?«
Sie schwieg und drehte den Polizeifunk auf volle Lautstärke.
51.
Deggendorf, 200 0 – Heute
Anfangs dachte Rosa, keinen einzigen Tag zu überstehen. Sie klammerte sich an die Stunden in der Drogerie, die vergingen am schnellsten. Die freie Zeit vor und nach der Arbeit quälte sie. Nachts wälzte sie sich schlaflos in ihrer Schuld. Sie hatte ihren Sohn verlassen, sie hatte einem Menschen sein Leben gestohlen, unwiederbringlich. Was war wohl mit Julias Leichnam geschehen?
Sie überließ ihrer Schwester, die sowieso schon so viel für sie getan hatte, alles allein. War ihr wirklich noch keiner auf die Spur gekommen oder wurde sie stillschweigend überwacht, weil das BKA hoffte, sie würde sie irgendwann zu Felix führen? Sie fragte sich, wie sie überhaupt noch existieren konnte, bei dem, was sie verbrochen hatte. Sie musste aus ihrem Kopf aussteigen, sonst wäre sie durchgedreht. Manchmal spürte sie sich kaum noch, stolperte, knickte um, ihre Arme und Beine waren mit blauen Flecken übersät. Sie schob es auf den Umzug, Gabys Schwager hatte noch einige alte Möbel, die sie aus dem Keller bis unters Dach schleppte. Körperlicher Schmerz verdrängte das Grübeln, und wenn er verebbte, schenkte er ihr noch einen kurzen, leeren Moment des Vergessens. Die Blutergüsse, die durch Krallingers Stoß mit der Waffe und den Sturz im Flur der Feldafinger Villa entstanden waren, wichen neuen Verletzungen, die ihren Körper färbten. Erst nach Wochen traute sie sich ein wenig durch die Stadt zu schlendern, die Schlagzeilen der Zeitungen am Kiosk zu lesen, immer in der Angst, dass sich gleich Handschellen um ihre Gelenke schlössen. Und diesmal nicht im Scherz, wie es dieser Kommissar bei Krallinger getan hatte. Das Bankkonto auf Regina Sommer bekam sie, weil Gabys Tochter dort arbeitete, den Zahnarzt besuchte sie nach Feierabend und bezahlte ihn schwarz. Ihre Zähne machten ihr Probleme. Das Zahnfleisch war entzündet, ihr ganzer Körper schien gegen sie zu rebellieren. Sie kochte Kamillentee, saugte an den Teebeuteln, abends wenn sich, allein in ihrer Wohnung, die Minuten in quälende Stunden verwandelten. Wie schon bei ihrer Schwester, saß sie unter einem schlecht isolierten Dach.
Von ihrem ersten Gehalt kaufte sie sich Kontaktlinsen, und die Welt nahm wieder Formen an. Sie färbte sich die Haare dunkelbraun, und Gaby schnitt sie ihr zu einem kinnlangen Bob. Auch wenn sie sich selbst kaum im Spiegel wiedererkannte, vermutete sie hinter jedem, der sie anstarrte, einen Spitzel des
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