Die Gesichtslosen - Fey, S: Gesichtslosen
Kinderhaarschleife zu Ihnen ins Institut gekommen. Er ist nicht mehr da, verschwunden seit einigen Jahren, vielleicht hat ihn auch das BKA beschlagnahmt. Die haben sich zwar nicht mehr blickenlassen, aber garantiert ihre Mittel und Wege, sich heimlich Zutritt zu Wohnungen zu verschaffen.«
Damit konnte sie richtigliegen, falls Krallinger auch bei Carina gewesen war, um die Akte zu holen.
»Sie glauben, Rosa hat Ihnen den Ring geschickt?«
Frau Salbeck nickte.
Carina kramte in ihrer Umhängetasche. Erst als sie den gesamten Inhalt auf den Stuhl neben sich gelegt hatte, fand sie das Asservatentütchen mit Eva Bretschneiders Ring. Sie hatte Dr. Herzog bitten wollen, ob er vielleicht irgendwelche Anhaftungen fand, außer denen von Eva und ihr. Das hatte sie ganz vergessen.
»Das ist er!«, rief Luise Salbeck aufgeregt. »Wo haben Sie den her?« Sie streckte die Hand danach aus. »Der ist was ganz Besonderes, darf ich es Ihnen zeigen?«
»Ich wollte ihn untersuchen lassen. Jemand anders hat ihn getragen. Wenn ich ihn aus der Tüte nehme, gehen vielleicht Spuren verloren«
»Na gut. Also, die Fassung hinter dem Stein besteht aus zwei feinen Ringen. Hinter dem Stein befindet sich ein Hohlraum, für was sehr Kleines, ein winziges Bild oder einen Diamanten.«
Eine ganze Gruppe Gäste drängte jetzt ins Restaurant, und Luise Salbeck grüßte den einen oder anderen. Carina war bis aufs Äußerste gespannt, hoffentlich verlor sie jetzt nicht den Faden.
Luise Salbeck wandte sich wieder ihr zu. »Damals, als ich den Ring erhielt, war ich fix und fertig, das können Sie sich vorstellen. Die Beerdigung lag schon über drei Jahre zurück, Anfang zweitausendeins war das.«
»Und war was drin in dem Hohlraum?«
»Nur eine Zahlenreihe, winzig kleine Ziffern und zwei Buchstaben.« Luise Salbeck fixierte das Tütchen mit dem Ring, als säße ein giftiges Tier darin.
Plötzlich klirrte es. Sie und auch Carina zuckten zusammen. Ein Mitarbeiter hatte aus der Küche einen Stapel Kartons zwischen den Leuten hindurchbalanciert und war an den Tisch mit den Dekorationen gestoßen. Einige Vasen waren umgefallen. Wasser tropfte herab und lief über den Boden.
»So pass doch auf!« Luise Salbeck wollte aufstehen. Diesmal drückte sie Carina zurück auf den Stuhl.
»Was waren das für Zahlen, haben Sie den Zettel noch?«
»Nein, der muss mir runtergefallen sein, und dann habe ich ihn aus Versehen aufgesaugt. Ich konnte sowieso nichts damit anfangen. D und B, Deutsche Bahn oder was?«
»Was ist aus Rosas Kind geworden, hat sie es zur Welt gebracht?«
Luise lachte. »Zur Welt gebracht, ha! Der Junge ist über zwanzig und macht mir das Leben schwer. Der da, das ist er.« Der junge Mann, den sie gerade beschimpft hatte, bückte sich, um aufzuwischen und zeigte Carina sein Profil. Den kenn ich doch, durchfuhr es sie. Das war der mit der Bäckerhose, ihn hatte sie mit Wanda in der Glyptothek gesehen! Luise Salbecks Neffe, Rosas Sohn. Sollte sie ihn nach Wanda fragen? »Spielt Ihr Neffe Geige?«, fragte sie.
»Schön wär’s«, erwidert Luise, »dann wäre der Tollpatsch zu was nütze. Er spricht nicht mehr, seit er mit sieben fast ertrunken ist. Das war, kurz bevor seine Mutter verschwand.«
Carina war wie elektrisiert. »Er ist stumm?« Maries Herzen um den Buchstaben »D« im Gebärdenlexikon tauchten vor ihrem inneren Auge auf.
Sie beobachtete ihn, wie er jede Blume einzeln aufhob und in die Vasen zurücksteckte, mit den Fingerspitzen die Blüten liebkoste, als hätten sie Gesichter und redeten mit ihm. Die Floristin, Frau Muth, hatte sie nicht etwas Ähnliches gesagt?
»Nicht mal die Hauptschule hat er geschafft, obwohl ich ihm alle Förderung und Therapien hab zukommen lassen. Die Ärzte haben mir versichert, dass kein Schaden von der Reanimation zurückgeblieben ist, aber trotzdem hat er mich erst nicht erkannt, als er aus dem Fieber erwachte. Wahrscheinlich merkte er gar nicht, dass seine Mutter nicht mehr da war. Auch die Krankenschwestern und Ärzte hat er nicht wiedererkannt, das zieht sich seither durch sein ganzes Leben.«
Prosopagnosie, Gesichtsblindheit, dachte Carina. Eine erst vor kurzem entdeckte Krankheit, deren Ursachen noch nicht erforscht sind.
»Wie erkennt er Sie denn?«
»Meine Stimme ist ihm von klein auf vertraut. Manchmal glaube ich allerdings, er täuscht das mit den Gesichtern nur vor, und ich glaube auch, dass er sprechen kann. Er tut nur so, weil es ihm gefällt, Billigjobs von der Stadtverwaltung
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